Alarmierende Nachricht – Der unbekannte Deutsch-Franzose

Zitadelle Besançon, Blick auf die Königliche Front; Foto: Robert Rauh

von Gabriele Radecke und Robert Rauh

Der Untertitel Erlebtes 1870 täuscht. Fontanes Leserschaft erfuhr nicht die ganze Wahrheit. Emilie, seiner vertrauten Frau, ging es nicht besser. Weder aus Fontanes autobiografischem Buch Kriegsgefangen noch aus seiner Privatkorrespondenz geht hervor, wie sehr er in der französischen Gefangenschaft auch gelitten hat. Zwar schreibt er in Kriegsgefangen, ihm sei in der Festung Besançon sehr Hartes zugemutet worden. Aber es tut nicht gut, ja es schädigt einen geradezu, die ganze petite misère [kleine Notlage] auf den Tisch zu legen. Zudem: Misère weckt Mitleid, aber auch dégoùt [Überdruss]. Details enthüllt er nur scheibchenweise mit einer – auch als Selbstschutz auferlegten – ironischen Distanz.

Dass es dennoch publik wurde, wie stark sich die erlittenen Strapazen auf die physische und psychische Konstitution Fontanes auswirkten, gehört in die Rubrik „Zufälle des Lebens“. Unter Fontanes Mitgefangenen, zu denen er in Beziehung trat, befand sich ein Deutsch-Franzose, mit dem er sich anfangs nicht recht anfreunden konnte. Einerseits hatte er etwas Sonderbares, beinahe Unheimliches in seinem tiefliegenden Auge und andererseits erinnerte ihn Fontane an das Bild des „Schulmeisters“ aus den „Geheimnissen von Paris“. Dabei handelt es sich um eine Figur aus dem Fortsetzungsroman Les mystères de Paris von Eugène Sue, der in den 1840er Jahren zu den erfolgreichsten Romanciers Frankreichs gehörte. Der „Schulmeister“ in Sues Erzählung ist ein aus dem Gefängnis entflohener Raubmörder; Fontanes Deutsch-Franzose ein Lehrer aus Lothringen und sechsfacher Familienvater, der, wie so viele andere, denunziert und verhaftet worden war, weil er mit einem preußischen Offizier gesprochen hatte.

Theodor Fontane: Kriegsgefangen, 1871 (Erstausgabe)
Foto: Robert Rauh

Als für ihn endlich der ersehnte Tag der Freiheit kam, bat er Fontane um das Reisegeld, weil er nicht wusste, wie er sonst nach Hause zurückkehren sollte. Als Fontane ihm das Geld ohne weiteres gab, traten dem Mann vor Dankbarkeit die Tränen in die Augen. Allerdings verhehlt Fontane nicht, der eigentliche Gewinner zu sein: Denn die Kunde von dieser Großtat lief wie ein Feuer durch die ganze Zitadelle von Besançon – Fontane war auf einem Schlag „etabliert“, ungesucht erhielt er eine exzeptionelle Stellung. Was er aber verschweigt: Nicht nur er hatte dem Manne einen Dienst geleistet und seine Dankbarkeit erworben, sondern auch umgekehrt.

Unterkünfte für die Gefangenen im Kadettengebäude auf der Zitadelle Besançon
Foto: Robert Rauh

In Kriegsgefangen ist der Deutsch-Franzose einer von insgesamt sechs porträtierten und namenlos gebliebenen Mitgefangenen; tatsächlich fungierte er auch als Fontanes Bote. Charles Vinckel, der Lehrer aus dem lothringischen Garburg [frz. Garrebourg], berichtete Fontane in einem Brief vom 25. Dezember 1870, wie es ihm nach seiner Freilassung am 14. Oktober ergangen war. Als er „aus dem Kerker kam“, habe ihm Fontanes geliehenes „Etappengeld, welches zudem sehr wenig war“, immerhin geholfen, den ersten Teil der „furchtbare[n] Reise“ zu machen. Nach circa einer Woche sei er im niederelsässischen Saverne [dt. Zabern] eingetroffen, wo er hoffte, beim Unterpräfekten „aus Dankbarkeit gegen Sie mein möglichstes zu thun für Ihre Befeiung“. Vinckel wurde jedoch „abgewiesen“. Mehr Glück hatte er am „anderen Tag [19. Oktober]“: Bei „Herrn Gie[s]e“ in Lutzelbourg [dt. Lützelburg] und „Herrn Unterpräfekt Knebel“ in Sarrebourg [dt. Saarburg] fand er zu seinem „größten Vergnügen gute Aufnahme“. Sie versprachen Vinckel, „sich auf das schleunigste“ um Fontanes Freiheit zu bemühen [F–Kriegsgefangen 1914, S. 213f.].

Der preußische Major Hermann von Giese, Kommandeur der Einschließungstruppen von Phalsbourg [dt. Pfalzburg], löste sein Versprechen umgehend ein, indem er am 20. Oktober in einem Brief an die „Familie Fontane“ zusammenfasste, was er von Vinckel, der inzwischen „todmüde in seine Heimat wanderte“, gehört hatte. Die Nachrichten über Fontanes Lage klangen alarmierend. „So soll er sehr aufgeregt und auch wohl mit Recht besorgt über sein Schicksal sein, da dem wilden Ausbruch der Leidenschaft dieses ungeregelten Landes je nach Lage der Umstände immer das Schlimmste zuzutrauen ist“. Hinsichtlich des „körperlichen Befindens“ habe Vinckel „nicht so recht“ mit der Sprache herausrücken wollen; behauptete jedoch mehrmals, „wenn er [Fontane] keine bessere Luft bekäme, würde er es nicht lange überstehen“. Abschließend riet Giese, „das Interesse Sr. Majestät für den unglücklichen Schriftsteller zu erwecken, oder das des Grafen Bismarck – indem den Franzosen eine Auswechslung angeboten wird“ [F–Kriegsgefangen 1914, S. 180ff.].

Weder Vinckels Botendienst noch dessen dramatisches Urteil über Fontanes Zustand spielen in Kriegsgefangen eine Rolle. Das Lesepublikum wird stattdessen – wie in Fontanes Briefen an Emilie vor seiner Verhaftung – mit einem Exkurs über die Franzosen unterhalten.

Blick vom Fluss le Doubs auf die Zitadelle Besançon
Foto: Robert Rauh

 Literatur

  • Theodor Fontane: Kriegsgefangen. Erlebtes 1870. Populär-historische Ausgabe. Mit Briefen und Dokumenten, Verlag Friedrich Fontane & Co., Berlin 1914 [F–Kriegsgefangen 1914]
  • Theodor Fontane: Kriegsgefangen. Erlebtes 1870, hrsg. von Christine Hehle, Aufbau Verlag, Berlin 2020
  • Gabriele Radecke/Robert Rauh: Fontanes Kriegsgefangenschaft. Wie der Dichter in Frankreich dem Tod entging, be.bra Verlag, Berlin 2020

Weblinks

  • Übersicht zur Entstehungsgeschichte von Fontanes Buch: Kriegsgefangen
    Fontane Online
  • Thorsten Paprotny: Theodor Fontane – ein preußischer Spion?
    literaturkritik
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