von Robert Rauh
Theodor Fontane hat es Neuruppin nicht leicht gemacht. Während er zeitlebens Distanz zu seiner Heimatstadt wahrte, unternahm Neuruppin, das sich seit 1998 ‚Fontanestadt‘ nennen darf, alles getan, um den Schriftsteller postum zu würdigen. Die Ehrungen reichen von der mit Pomp und Pathos gefeierten Enthüllung eines Denkmals (1907) bis zum groß gefeierten Fontane-Jubiläum anlässlich seines 200. Geburtstags (2019).
In seinem autobiografischen Roman Meine Kinderjahre wird Neuruppin im Gegensatz zum zweiten Kindheitsort Swinemünde kaum erwähnt. Und in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg attestierte Fontane Neuruppin „Öde und Leere, die zuletzt den Eindruck der Langenweile macht“ (GBA–Wanderungen, Bd. 1, 52). Eine Leidenschaft für seine Geburtsstadt könne man Fontane „beim besten Willen nicht nachsagen. Eigentlich hat er den Ort seiner Herkunft eher denunziert als sich ihm sentimental genähert“ (Rutsch 2018, 75). Aber nicht nur die Neuruppiner haben kaum danach gefragt, warum Fontane mit ihrer Stadt fremdelt. Stattdessen wurde erleichtert auf die Biografen verwiesen, von denen einige in Fontanes Kindheit eine „beinahe glückliche“ Zeit sehen (Zimmermann 2019, 31ff.).
„Er war so ganz nur Mensch“ (Schmidt, 1907): Einweihung des Fontane-Denkmals von Bildhauer Max Wiese in Neuruppin am 8. Juni 1907; der Literaturwissenschaftler und Präsident der Goethe-Gesellschaft Erich Schmidt hielt die Festrede.
Quelle: Theodor-Fontane-Archiv
„Fontane war ein Ausnahmeschriftsteller“ (Steinmeier, 2019): Eröffnung der Leitausstellung „fontane.200/Autor“ im Museum Neuruppin in Anwesenheit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Mitte) am 30. März 2019 anlässlich des 200. Geburtstags von Theodor Fontane
Foto: Museum Neuruppin
Die Spuren für diese Annahmen legte Fontane selbst. In Meine Kinderjahre (1893) – die einzige ausführliche autobiografische ‚Quelle‘ über die frühen Lebensjahre – erzählt er, seine Eltern hätten in Neuruppin „vorwiegend glückliche Jahre“ verlebt (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 12). Dass die Ehe letztendlich scheiterte, hätte Fontanes Kindheit jedoch nicht „verdunkelt“, im Gegenteil: In Meine Kinderjahre blicke Fontane am Lebensende „ohne Groll, aber voller Dankbarkeit zurück“ (Oelkers 1985, 25, 47). In Neuruppin hätte die Familie „zunächst gute Jahre“ verbracht (Zimmermann, 2019, 33). Nie seien „die Verhältnisse im Elternhaus komfortabler als in der Ruppiner Zeit“ gewesen (Dieterle, 2018, 57). Überhaupt wären die ersten zwölf Jahre, also auch die Neuruppiner, ungeachtet „aller Unbilden der Ehe der Eltern, der mangelhaften äußeren Umstände […] alles in allem erfreulich für ihn“ gewesen (Zimmermann 2019, 33). Dabei wird Meine Kinderjahre seit den 1990er Jahren in der Forschung längst nicht mehr nur als idyllische Kindheitsbeschreibung gedeutet. Vielmehr suche Fontane in diesem Text „die wahren Punkte, die neuralgischen Zonen seiner Biografie auf“ (Wruck 1998, 66). Für die Neuruppiner Zeit bildet die Ehe seiner Eltern die heikelste Problemzone. Er sei „unter Verhältnissen groß gezogen, in denen überhaupt nie was stimmte“, resümierte Fontane in seiner Autobiografie Von Zwanzig bis Dreißig (GBA–Autobiogr. Werk, Bd. 3, 131). Für diese Kindheitserfahrungen, die ihn zeitlebens prägten, steht exemplarisch Neuruppin.
„Vorwiegend glückliche Jahre“ (Meine Kinderjahre): Cover und Titelblatt der Erstausgabe von „Meine Kinderjahre“. Die Buchausgabe erschien im Verlag seines Sohnes Friedrich zu Weihnachten 1893, vordatiert auf 1894.
Foto: Robert Rauh
Glücksgefährdet in Neuruppin
Über die schwierige Ehe seiner Eltern kann auch nicht Fontanes märchenhaft anmutende Beschreibung ihrer Ankunft in der märkischen Kleinstadt hinwegtäuschen: „An einem der letzten Märztage des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der Löwen-Apotheke in Neuruppin, und ein junges Paar, von dessen gemeinschaftlichem Vermögen die Apotheke kurz vorher gekauft worden war, entstieg dem Wagen und wurde von dem Hauspersonal empfangen“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 4). Tatsächlich trafen Emilie Louise (geb. Labry) und Louis Henri Fontane, die am 24. März 1819 in Berlin geheiratet hatten, erst am 1. April in Neuruppin ein und wurden begleitet von Louis Henri Fontanes Vater, Pierre Barthélemy Fontane, der nicht nur die Kaufsumme von 7.750 Talern (gegen eine fünfprozentige Verzinsung) zur Verfügung gestellt hatte, sondern offenbar auch dem Geschäftsabschluss beiwohnte, der seinen Sohn – zumindest auf dem Papier – zum alleinigen Eigentümer der Königlich Privilegierten Löwen-Apotheke machte (vgl. Dieterle 2018, 54). Sie befand sich in einem klassizistischen zweigeschossigen Neubau an der Hauptverkehrsstraße zwischen Kirche und Gymnasium in der Friedrich-Wilhelm-Straße 84. Eine Beschreibung des Hauses, das erhalten geblieben ist (heute: Karl-Marx-Straße 84), findet sich weder in Meine Kinderjahre noch in den Wanderungen.
Geburtshaus Fontanes, Postkarte, ca. 1935
Quelle: Regionalverlag Neuruppin
Ungeklärte Zukunft: Fontanes Geburtshaus in der Karl-Marx-Straße in Neuruppin, 2023.
Foto: Robert Rauh
Fontane, der für seine Publikationen gründlich recherchierte, erklärt auch nicht, warum es die Eltern nach Neuruppin verschlagen hat. Er berichtet zwar, sein Vater habe die Löwen-Apotheke „unter den günstigsten Bedingungen, man könnte sagen ‚für ein Butterbrot‘“ erworben (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 16), nicht jedoch, dass der Vater gezwungen war, von der Hauptstadt in die Provinz zu wechseln. Weil Louis Henri Fontane im Januar 1819 (nur) ein Apothekerexamen „Zweiter Klasse“ absolviert hatte, durfte er entsprechend der „Revidirte[n] Ordnung laut derer die Apotheker in den Königlichen Preußischen Landen ihr Kunst-Gewerbe betreiben sollen“ von 1801 lediglich Apotheken in Provinzstädten mit weniger als 5.000 Einwohnern übernehmen (D’Aprile 2018, 41). Damit war dem jungen Paar die Hauptstadt Berlin als Wohnort genauso verschlossen wie Potsdam und Königsberg oder Danzig und Duisburg. Ungeachtet dessen verhinderten ihr großstädtischer Habitus, ihre regelmäßigen Ausflüge nach Berlin sowie Louis Henri Fontanes Entscheidung, das ihm 1821 angetragene Amt eines Bezirksvorstehers auszuschlagen (vgl. Dieterle 2018, 57), dass sie in Neuruppin heimisch wurden. Die Verweigerung von Fontanes Vater, sich in der lokalen Politik zu engagieren, ist vermutlich auch zurückzuführen auf die ministerielle Ablehnung seines Gesuchs (1820) zum Erwerb der zweiten Apotheke in Neuruppin, der Königlich-Privilegierten Adler-Apotheke (vgl. Bellin 1982).
Dass sie in Neuruppin letztlich auch nicht Fuß fassen konnten, lag am Vater, „der immer mehr ausgab, als er einnahm“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 17). Am Lebensende bekannte Louis Henri Fontane seinem Sohn gegenüber, er habe zu früh geheiratet und sei zu früh selbstständig geworden. Emilie Fontane, inzwischen Mutter von vier Kindern, litt darunter, dass die Schulden wuchsen und ihr Mann, „sosehr er sie liebte, von Zärtlichkeitsallüren auch nie eine Spur gehabt hatte“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 25). Leidenschaft entwickelte Fontanes Vater dagegen im Neuruppiner Clubleben. Innerhalb von sieben Jahren verspielte er beim „Whist en trois“ nach eigener Aussage „allmählich zehntausend Taler“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 17). Der Hauptgewinner war der Gutsbesitzer Ernst Scherz aus Krenzlin, dessen Sohn Herrmann später nicht nur Spiel- und Schulkamerad, sondern auch ein Freund Fontanes wurde. Die Söhne vollzogen den entgegengesetzten Transfer, indem Herrmann Scherz einen Teil des Spielgewinns an Fontane zurückzahlte, unter anderem als Zuschuss für dessen erste England-Reise im Jahre 1844(vgl. AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 17).
Fontane beschreibt in Meine Kinderjahre, wie sich das „Bedrückliche der Situation“ steigerte. Weil der Vater immer mehr „zwischen zwei Feuer“ – dem Unmut des Großvaters, der Hauptgläubige seines Vaters, sowie den Vorwürfen seiner „ganz auf schwiegerväterliche[r] Seite stehenden Mutter“ – geriet, entschloss er sich, die Apotheke zu verkaufen. Beim Verkauf erzielte er das Doppelte und „erreichte dadurch das, wonach er sich sieben Jahre lang gesehnt hatte: Freiheit und Selbständigkeit“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 17–18). Wie sich die erste finanzielle ‚Bredouille‘ des Vaters und das Nervenleiden der Mutter auf den Gemütszustand des Jungen auswirkten, thematisiert Fontane nicht.
„Zwischen zwei Feuer[n]“ (Meine Kinderjahre, 1893): Louis Henri Fontane (1796–1867), Zeichnung von Hellmut Raetzer, ca. 1937
Quelle: Wikipedia (gemeinfrei)
Grab von Louis Henri Fontane in Schiffmühle (Bad Freienwalde), dem letzten Wohnort des Vaters
Foto: Robert Rauh
Geboren in Neuruppin
Neun Monate nach der Ankunft der Eltern kam Fontane am 30. Dezember 1819 „zwischen 4 und 5 Uhr Abends“ zur Welt (Evangelisch-reformiertes Kirchenbuch Neuruppin 1819, zit. nach: Dieterle, 2018, 56). Für Fontanes Mutter sei es um „Leben und Sterben“ gegangen, weshalb sie später auf den Vorwurf, sie würde den Ältesten bevorzugen, „einfach antwortete: ‚er ist mir auch am schwersten geworden‘“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 16). Getauft wurde Fontane am 27. Januar 1820 auf den Namen „Heinrich Theodor“ vom reformierten Superintendenten Johann Leberecht Bientz in der Neuruppiner Pfarrkirche (Evangelisch-reformiertes Kirchenbuch Neuruppin 1819, zit. nach: Dieterle, 2018, 56). Nachdem Fontanes Vater die Löwen-Apotheke im Sommer 1826 verkauft und sich auf die Suche nach einer neuen Apotheke begeben hatte, verlebten Mutter und Kinder „diese Zwischenzeit in einer in Nähe des Rheinsberger Tores gelegenen Mietwohnung, einer geräumigen, aus einer ganzen Flucht von Zimmern bestehenden Beletage“ (Friedrich-Wilhelm-Straße 307; AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 18).
Zwischenstation: Neuruppin am Rheinsberger Tor, wo sich die Mietwohnung der Fontanes befand, nachdem der Vater die Löwen-Apotheke verkauft hatte, Postkarte, ca. 1920
Quelle: Regionalverlag Neuruppin
Während die Eltern „mit dem Tausche leidlich zufrieden“ schienen und die jüngeren Geschwister „für ihre Spiele Platz in Hülle und Fülle“ hatten, konnte sich Theodor „nicht zufrieden fühlen“ und behielt das Mietshaus, das ein „Schlächterhaus“ war, „in schlechter Erinnerung“. Über den Hof floss Blut und eine „Schweineschlachtung“ verfolgte der Junge wie gelähmt „vor Entsetzen“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 18–19). Prägend war auch „ein großes Feuer, bei dem die vor dem Rheinsberger Tore gelegenen Scheunen abbrannten“ (Mai 1827), wobei ihm nicht „das Feuer, dessen Schein ich nicht mal sah“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 21) in Erinnerung blieb, sondern seine in Panik geratene Mutter. Nur am Rande erwähnt wird der einjährige Besuch auf der „Klippschule“ (1826/27) bei Lehrer Gerber, der „überhaupt sehr gut“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 19) gewesen sei. Obwohl man mit sieben Jahren „gerade alt genug“ sei, „um allerlei zu behalten“, resümiert Fontane, wisse er „aber herzlich wenig aus jener Zeit“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 21). Ob er tatsächlich nichts erinnerte oder verdrängte, was er erlebt hatte, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten.
Ungeachtet dessen wird Fontanes Geburtsstadt in Meine Kinderjahre auch in der Rückschau nicht beschrieben – weder architektonisch noch atmosphärisch. Man erfährt keine historischen Hintergründe: dass Neuruppin eine kleine Garnisons- und Kreisstadt am Nordende des Ruppiner Sees mit knapp 5.000 Einwohnern war und dass der Ort nach dem verheerenden Brand 1787 mithilfe des Königs als preußische Musterstadt mit großzügigen Straßenfluchten wieder aufgebaut wurde (1788–1803). Wie der junge Fontane seine Heimatstadt wahrnahm und wo er als Kind spielte, lässt sich dagegen aus seiner ersten Novelle Geschwisterliebe entnehmen, die er als 19-Jähriger veröffentlichte (1839). Ohne Neuruppin namentlich zu nennen, beschreibt er „eine der ältesten Städte der Mark Brandenburg“, die nach einem „großen Brande“ (GBA–Erz. Werk, Bd. 18, 5) zerstört und wieder aufgebaut wurde. Die Protagonisten bevorzugen nicht die „größeren Straßen“, die „so sauber und prächtig erschienen“, sondern ihren Garten, „den die Stadtmauer begrenzte, über welche hinfort man den großen, stillen See in seiner ganzen Pracht erblicken und bewundern konnte“ (GBA–Erz. Werk, Bd. 18, 11).
„Raumverschwendende Anlage“ (Wanderungen, 1862): Blick auf den Schulplatz mit der Friedrich-Wilhelm-Straße (heute Karl-Marx-Straße), Postkarte, ca. 1910
Quelle: Regionalverlag Neuruppin
Immer wieder: Rückkehr nach Neuruppin
Im Sommer 1827 verließen die Fontanes Neuruppin: der Vater fuhr mit den Kindern nach Swinemünde, wo er eine neue Apotheke erworben hatte, und die Mutter zu einer wochenlangen „Nervenkur“ nach Berlin (AFA–Autobiograf. Schriften, Bd. 1, 26). Während der Ostseeort in Fontanes Biografie eine Zwischenstation blieb (1827–1832), kehrte er in die märkische Kleinstadt immer wieder zurück – aus unterschiedlichen Gründen. Als Zwölfjähriger besuchte er für anderthalb Jahre das Gymnasium in Neuruppin (von Ostern 1832 bis Herbst 1833), wo die Fontanes „noch Anhang und gute Freunde“ hatten (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 186) und den Jungen beim Superintendenten Bientz in der Ferdinandstraße 13 (heute: Virchowstraße 13) unterbringen konnten.
Als Erwachsener reiste Fontane zum Familienbesuch in seinen Geburtsort. Denn nach der Trennung seiner Eltern (1850) war seine Mutter – zusammen mit Fontanes jüngster Schwester Elise – nach Neuruppin gezogen. Später unterstützte Elise, die nach dem Tod ihrer Mutter (1869) noch bis zu ihrer Heirat (1875) in Neuruppin wohnen blieb, ihren Bruder bei den Vorarbeiten zu den Wanderungen in der Grafschaft Ruppin. Um vor Ort zu recherchieren, reiste Fontane gleich mehrmals nach Neuruppin. Bereits im ersten Wanderungen-Band (1862) erhielt Neuruppin ein umfangreiches Kapitel, in dem Fontane die „kleine Provinzialstadt“ ironisch zurechtstutzt: Ihre „raumverschwendende Anlage“ gleiche „einem auf Auswuchs gemachten großen Staatsrock, in den sich der Betreffende, weil er von Natur klein ist, nie hineinwachsen kann“ (GBA–Wanderungen, Bd. 1, 52). Er unterschlägt, dass diese „raumverschwendende Anlage“ dem Sicherheitsbedürfnis nach dem Großbrand geschuldet war.
Hervorgehoben werden dagegen die „bedeutenden Männe[r]“, wie Friedrich II., der einige Jahre seiner Kronprinzenzeit in Neuruppin verbrachte (1732–1736), sowie Karl Friedrich Schinkel, der 1781 in Neuruppin geboren wurde (GBA–Wanderungen, Bd. 1, 78–95, 104–126). Gewürdigt werden darüber hinaus das „Zietenmuseum“ des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums (heute: Altes Gymnasium) – „ein Schatz“, dessen Exponate Fontane bei seinem Besuch (nur) in seinem Notizbuch dokumentierte (F–Notizbücher, A 2, 1873; vgl. Radecke 2019), sowie der Neuruppiner Bilderbogen, der im Verlagshaus von Gustav Kühn – schräg gegenüber der Löwen-Apotheke – hergestellt wurde und „[l]ange bevor die erste ‚Illustrierte Zeitung‘ in die Welt ging“, das Tagesgeschehen illustrierte (GBA–Wanderungen, Bd. 1, 132).
Die abgebrannte Ruppina liegt am Boden: „Berlins Menschenliebe kommt Ruppin in der Asche liegend zu Hülfe“, Kupferstich von Daniel Chodowiecki 1787.
Foto: Klaus-Peter Möller
„Höchst originell“: Fontanes Skizze vom Kupferstich Daniel Chodowieckis, entstanden bei seinem Besuch im „Zietenmuseum“ des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums (heute: Altes Gymnasium) im September 1873, Notizbuch A2 von 1873.
Quelle: Digitale Notizbuchedition, hrsg. von Gabriele Radecke
Neuruppin in Fontanes Werken und Briefen
Der Neuruppiner Bilderbogen, der auch Eingang in Fontanes Spätwerk wie Frau Jenny Treibel (1892) und Der Stechlin (1898) fand, ist nur ein Beispiel für Fontanes literarische Motiv-Komplexe, deren Ausgangspunkt sein Geburtsort Neuruppin bildet. Zu den Beispielen gehört auch der Neuruppiner Wall – ein „Entzückend Bild!“ –, mit dem das Neuruppin-Kapitel in den Wanderungen unerwartet poetisch endet (GBA–Wanderungen, Bd. 1, 200–201) und „in dem er in behutsamer Andeutung die Stimmung des alten Ruppiner Friedhofes, auf dem sie [seine Mutter] ruhte, einfing“ (Reuter 1968, Bd. 1, 94–95). Diese Szenerie schilderte Fontane 1895 „diesmal in knappster lyrischer Form“ in seinem Gedicht Meine Gräber (Reuter 1968, Bd. 1, 95).
Ungeachtet der Literarisierung Neuruppins erlangte Fontanes Geburtsstadt nie die poetischen Weihen, welche Swinemünde vorbehalten waren. Die Kontrastierung der beiden Kindheitsorte zieht sich wie ein roter Faden durch die Selbstzeugnisse. „[W]ährend an manchen Orten die Langeweile ihre graue Fahne schwingt, haben andre unausgesetzt ihren Tanz und ihre Musik“, schreibt Fontane an seinen Freund Georg Friedlaender, „wie spießbürgerlich war mein heimathliches Ruppin, wie poetisch das aus bankrutten Kaufleuten bestehende Swinemünde […] das war besser als die unregelmäßigen Verba, das einzig Unregelmäßige, was es in Ruppin gab“ (22. Oktober 1890, FFried2, 187). Seinem Sohn Friedrich prognostizierte Fontane, er werde noch „die Wahrnehmung machen“, dass die Küstenstriche von Nord- und Ostsee „viel schöner, reicher, feiner“ seien „als das Binnenland, ganz besonders als die Provinz Brandenburg […]. An der Küste hin schmeckt alles nach England, Skandinavien und Handel, in Brandenburg und Lausitz schmeckt alles nach Kiefer und Kaserne“ (Fontane an Friedrich Fontane, 6. Juni 1885, HFA IV/3, 392).
„Ja, Swinemünde war herrlich“ (Fontane an Friedlaender, 1890): Gedenktafel am ehemaligen Standort der Adler-Apotheke (Abriss: 1955) in Swinemünde/Świnoujście; der junge Fontane lebte hier von 1827–1932 / Foto: Robert Rauh
Der Gegensatz zwischen Neuruppin und Swinemünde gehört zur Familientradition. Was Fontane seinem Sohn an Lebenserfahrung vermittelte, hatte schon der eigene Vater weisgesagt. Als Louis Henri Fontane in Swinemünde eine neue Apotheke gefunden hatte, schrieb er der ungeduldig wartenden Familie nach Neuruppin: Pommern, die „neue Heimat“, sei „eine Prachtprovinz und viel reicher als die Mark. Und wo die Leute reich sind, lebt es sich auch am besten.“ Der passionierte Kutscher fügte hinzu: „Swinemünde selbst ist zwar ungepflastert, aber Sand ist besser als schlechtes Pflaster […]“ (AFA–Autobiogr. Schriften, Bd. 1, 25).
Klosterkirche Neuruppin
Foto: Robert Rauh
Quelle
- Robert Rauh: Neuruppin. In: Rolf Parr, Gabriele Radecke, Peer Trilcke, Julia Bertschik (Hrsg.): Theodor Fontane Handbuch. Band 1. Berlin/Boston: de Gruyter 2023, S. 29–34.
Fontanes Werkausgaben
- Gabriele Radecke (Hrsg.): Theodor Fontane: Notizbücher. Digitale genetisch-kritische und kommentierte Edition. Göttingen 2015 ff. https://fontane-nb.dariah.eu/index.html
- AFA–Autobiogr. Schriften = Theodor Fontane: Autobiografische Schriften. Bd. 1: Meine Kinderjahre, hrsg. v. Gotthard Erler, Peter Goldammer und Joachim Krueger. Berlin, Weimar: Aufbau 1982.
- AFA–Autobiogr. Werk = Theodor Fontane: Das autobiografische Werk. Bd. 3: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiografisches, hrsg. v. der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen (2014).
- GBA–Wanderungen = Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd.1: Erster Teil. Die Grafschaft Ruppin, hrsg. v. Gotthard Erler und Rudol Mingau. Aufl. 1994.
Literatur
- Bellin, Karen: 2 Original-Briefe Louis Henri Fontanes. Mosaiksteine zum „Bild des Vaters“ Theodor Fontanes. In: FBl 34 (1982), S. 148–150.
- D’Aprile, Iwan-Michelangelo: Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung. Reinbek: Rowohlt 2018.
- Dieterle, Regina: Theodor Fontane. Biografie. München: Hanser 2018.
- Oelkers, Jürgen: Die Herausforderung der Wirklichkeit durch das Subjekt. Literarische Reflexionen in pädagogischer Absicht. Weinheim, München: Juventa 1985.
- Radecke, Gabriele: „Höchst originell“ – Fontanes Notizbücher und sein unbekannter Besuch im Neuruppiner Zieten-Museum. In: Ostprignitz-Ruppin Jahrbuch 2019, S. 8–23.
- Reuter, Hans-Heinrich: Fontane. 2 Bde. Berlin: Verlag der Nationen 1968.
- Rutsch, Hans-Dieter: Der Wanderer. Das Leben des Theodor Fontane. Berlin: Rowohlt 2018.
- Wruck, Peter: Die „wunden Punkte“ in Fontanes Biographie und ihre autobiographische Euphemisierung. In: FBl. 65–66 (1998), S. 61–71.
- Zimmermann, Hans Dieter: Theodor Fontane. Der Romancier Preußens. München: Beck 2019.
Weblinks
- Ausstellung fontane.200/Online (2019)
- Gabriele Radecke/Robert Rauh: Wandern nach Notizen (Teil 19): Neuruppin; in: Märkische Allgemeine Zeitung vom 4.10.2019