Umstritten: Der Dichter im Straßenbild, Fontanestraße in Tramnitz (Landkreis Ostprignitz-Ruppin, Brandenburg)
Foto: Robert Rauh
von Harry Nutt, Journalist und Publizist
Als die Grüne Jugend Hessen es im März 2024 mit aktionistischem Schwung und in Aussicht auf gesteigerte mediale Aufmerksamkeit insbesondere auf Theodor Fontane abgesehen hatte, brachte der Focus-Herausgeber Helmut Markwort den 2013 gestorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in Stellung, den zu Lebzeiten berühmtesten Bürger der Stadt Frankfurt am Main. Ebendort nämlich hatten die jungen Grünen ein ergänzendes Schild an der Fontanestraße im sogenannten Frankfurter Dichterviertel anbringen lassen, das den Namensgeber unerbittlich und ohne weitere Begründung als Antisemiten kennzeichnete.
Markwort mobilisierte sogleich die Erinnerung eines privaten Besuchs in der Wohnung von Teofila und Marcel Reich-Ranicki, in der ihm ein großes Fontane-Porträt aufgefallen war, und mutmaßte, dass der Literaturkritiker den von ihm verehrten Fontane wohl energisch gegen solch plumpen Polit-Aktivismus verteidigt hätte.
Allzu sicher sollte sich der Journalist, der den Transport von Fakten einst zu einer Art Branchen-Karikatur hatte werden lassen, darin allerdings nicht sein. Mal abgesehen davon, dass die Einvernahme des prominenten Juden und Überlebenden des Warschauer Ghettos zur politischen Argumentverstärkung unangenehm paternalistisch anmutet, markiert die Auseinandersetzung des Literaturkritikers Reich-Ranicki mit vor allem in den Briefen Fontanes auffindbaren antisemitischen Äußerungen eine auffällige Leerstelle.
Verborgen geblieben sind sie ihm nicht. In dem als spektakulär wahrgenommenen Verriss des Romans „Ein weites Feld“ von Günter Grass in der Wochenzeitung Spiegel im Jahr 1995, in dem auch das Stichwort Antisemitismus fällt, sagt Reich-Ranicki über den Briefschreiber Fontane: Er „war ein Schnellschreiber, dem (gar nicht so selten) auch ein törichtes Wort aus der Feder geflossen ist, zumal in seinen zahllosen Briefen.“
In der als offener Brief an Grass getarnten Rezension hätte eine Befassung mit Fontanes Antisemitismus Reich-Ranicki wohl zu weit von der Kritik des Grass-Romans fortgetragen. Aber auch in einer ausführlichen Exegese des Briefschreibers Fontane (in: Die Zeit, 16. Juni 1972) unterlässt Reich-Ranicki es, explizit auf den Fontaneschen Antisemitismus einzugehen. Vielmehr scheint dieser in der Analyse des besonderen Temperaments des Briefschreibers Fontane aufgehoben. „Die Korrespondenz zeigt eben nicht einen gelassenen oder abgeklärten, vielmehr einen unruhigen und auffahrenden, impulsiven und leidenschaftlichen Mann, einen nervösen und reizbaren Künstler, einen aggressiven, oft ungerechten und gelegentlich bösartigen Zeitgenossen.“
Bewusstsein über zeitgenössischen Antisemitismus
So viel milde Nachsicht hinsichtlich seiner antisemitischen Äußerungen hatte Theodor Fontane im engsten Familienkreis nicht zu erwarten. „Papa ist etwas unsicherer Stimmung“, schrieb einmal seine Tochter Martha, „u. schimpft mehr wie schön ist auf die Juden.“ Deswegen zur Rede gestellt, erklärte Fontane, es sei „eine Alterserscheinung“, wenn man „so fanatisch“ werde. Aber kann Selbsterkenntnis in diesem Fall bereits als Entlastung gewertet werden?
„Schimpft mehr wie schön ist auf die Juden“: Fontane mit seiner Tochter Martha in Arnsdorf, Riesengebige, unbekannter Fotograf, 1886.
Quelle: Theodor-Fontane-Archiv
Martha Fontanes Besorgnis indes belegt, dass es in den 1880er-Jahren ein ausgeprägtes Bewusstsein über den zeitgenössischen Antisemitismus gegeben haben muss, der über den evangelischen Hofprediger Adolf Stoecker und den Historiker und nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Heinrich von Treitschke längst auch in den akademischen Raum eingedrungen war.
Auf Heinrich von Treitschke indes mochte Fontane nichts kommen lassen. Trotz der heftigen zeitgenössischen Kritik blieb er dem Historiker gegenüber loyal, der seinen Romanerstling „Vor dem Sturm“ als „deutschen Roman“ bezeichnet hatte, „an dem man seine Freude haben könne“. Persönlich begegnet sind sich Treitschke und Fontane mutmaßlich 1880, Treitschke zählte denn auch zu den Mitunterzeichnern des Antrags auf Verleihung der Ehrendoktorwürde an Fontane. „Noch in seinem letzten Lebensjahr, so glaubte er“, heißt es im Fontane-Lexikon von Helmuth Nürnberger und Dietmar Storch (Hanser Verlag), „Treitschke gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz nehmen zu müssen.“ In einem Brief an E. Liesegang vom 14. September 1898 fragt Fontane: „Was haben Sie zu dem dummen Briefe von G. Ebers an Prof. Nerrlich über Treitschke gesagt?“ Ebers hatte in dem in der Vossischen Zeitung veröffentlichten Brief von den „antisemitischen Velleitäten“ Treitschkes gesprochen, die diesen zum „Fälscher“ hätten werden lassen.
In Schutz genommen bis zum Schluss: Treitschkestraße mit Hinweistafel in Karlsruhe.
Foto: Badische Neueste Nachrichten
Fontanes judenfeindliche Äußerungen sind keine Lappalie. In seinen Briefen finden sich Begriffe wie „verjüdelte Menschheit“ und er beklagt sich über die „Massenjudenschaft aus allen Weltgegenden“. Aber es gab auch den anderen Fontane, der enge Freundschaften mit jüdischen Zeitgenossen unterhielt. Das Vorhaben, einen Essay unter dem Titel „Das Judenthum und die Berliner Gesellschaft“ abzufassen, kündigte er dem Redakteur der Zeitschrift Nord und Süd mit der Absicht an, er werde es „ziemlich anti-adlig und judenfreundlich“ abfassen. Seine Haltung gegenüber den Juden schien Fontane bis in den Schlaf hinein zu verfolgen. An Tochter Martha schrieb er am 9. Juni 1890: „Unter Thränen wachse ich immer mehr aus meinem Antisemitismus heraus, nicht weil ich will, sondern weil ich muß.“ Wo der Wille dominiert und wie er sich von gesellschaftlicher Konvention und innerem Bedürfnis unterscheidet, bleibt allerdings Fontanes Geheimnis.
Sassmannshausen-Dossier: ambivalenter Fall
Diese scheinbar gegensätzlichen Haltungen haben den Politikwissenschaftler Felix Sassmannshausen wohl dazu bewogen, Fontane in seinem unlängst veröffentlichten Dossier über „Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin“ als ambivalenten Fall einzustufen. Zwar unterstellt er Fontane eine antijüdische Gefühlswelt, ist sich letztlich aber nicht sicher, ob er tatsächlich ein antisemitisches Weltbild vertrat. Als Handlungsempfehlung schlägt Sassmannshausen „Kontextualisierung“ vor. Fontane-Straßen und -Promenaden sollen demnach nicht aus dem Berliner Stadtbild verschwinden. Was jedoch genau unter Kontextualisierung zu verstehen ist, bleibt leider offen.
Ein anderer Problemfall ist laut Sassmannshausen der frühere Oberbürgermeister von Köln und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer. „Es gibt verschiedene Hinweise auf antisemitische Ressentiments im Denken Adenauers, die sich auf ein Interview aus dem Jahr 1965 und auf Äußerungen Adenauers bei einem Treffen im Jahr 1954 beziehen“, heißt es im Dossier. Belastend wird ferner angeführt, dass Adenauer als erster deutscher Bundeskanzler ehemalige NS-Funktionäre in seiner Regierung um sich versammelte.
Der im Dossier nicht weiter ausgeführte Hinweis dürfte sich vor allem auf Hans Globke beziehen, der zwischen 1953 und 1963 Chef des Bundeskanzleramts war und schon deshalb eine Schlüsselrolle bei der Beantwortung der Frage spielt, wie stark gerade auch in personeller Hinsicht die junge Bundesrepublik durch das NS-Erbe belastet war. Angesichts der Personalie Globke, der Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze und verantwortlicher Ministerialbeamter für die judenfeindliche Namensänderungsverordnung während der NS-Zeit war, können späte Enthüllungen im Berliner Kulturbetrieb wie die über Alfred Bauer bei der Berlinale und Werner Haftmann an der Neuen Nationalgalerie kaum mehr verwundern. Die institutionelle Kontinuität des NS-Staats wirkte lange in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der alten Bundesrepublik nach. Aber ist Globkes Regierungszugehörigkeit, die ein Auslöser für die Studentenproteste in den Jahren um 1968 war, ein hinreichendes Indiz, das auf eine antisemitische Haltung Adenauers selbst verweist?
Die Beispiele mögen genügen, um die historische Unschärfe kenntlich zu machen, die sich durch die gesamte Fallsammlung zieht, in der Sassmannshausen 290 antisemitische Bezüge in Berliner Straßennamen ausgemacht hat. Wie hier ausgeführt, ist es gar nicht schwer, die jeweilige Lebensgeschichte im Kontext ihrer Zeit zu betrachten und möglicherweise auch Entwicklungen zu erkennen. Sassmannshausen macht sich diese Mühe nicht. Eher liest sich das Dossier wie eine moralische Verkehrssünderkartei, nach deren Prinzipien in rund 100 Fällen die Fahrerlaubnis entzogen werden soll.
„Eine Alterserscheinung“: Fontane an seinem Schreibtisch in Berlin, Fotografie (Ausschnitt), 1894.
Quelle: Theodor-Fontane-Archiv
Wahrscheinlich ist der flapsige Ton hier unangebracht, aber unter dem Deckmantel einer geschichtswissenschaftlichen Recherche gibt Sassmannshausen, dessen Arbeit durch den Berliner Antisemitismusbeauftragten Samuel Salzborn beauftragt wurde, politische Handlungsempfehlungen, obwohl doch zunächst einmal die Erweiterung des historischen Wissens sowie ein darauf aufbauender Bewusstseinsprozess angebracht wären.
Viele der Namen, die im Dossier aufgelistet werden, finden sich auch in der Studie „Warum die Deutschen, warum die Juden?“, in der der Historiker Götz Aly die Wurzeln eines im 19. Jahrhunderts entstehenden eliminatorischen Antisemitismus freilegt, der schließlich in den Holocaust mündete. Der Vergleich mit Aly, der durch Verweise auf viele andere Historiker ergänzt werden müsste, macht das Unbehagen über die Kasuistik Sassmannhausens deutlich, in der fleißig Namen zusammengetragen werden, ohne die mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge in der Entstehung des Neids und des Rassenhasses zu vertiefen.
Als Medium der kollektiven Erinnerung gibt es keinen Anspruch auf ein bewahrendes Andenken im Stadtbild. In vielen Fällen kann gerade die Diskussion über die Umbenennung eines Straßennamens der Auslöser für eine fruchtbare gesellschaftliche Debatte sein. Als dezisionistische Handlungsempfehlung in hundertfacher Ausführung aber nimmt das Dossier einen kulturkämpferischen Charakter an, der die gesellschaftliche Sensibilisierung in aufklärerischer Absicht konterkariert. Das Bedürfnis und die Möglichkeit, aus der Geschichte zu lernen, bilden sich gerade auch aus dem Widerspruch, dass es möglich sein sollte, Richard Wagner als Komponisten zu verehren und als politischen Demagogen zu verachten.
Zum Autor: Harry Nutt arbeitete nach dem Studium der Germanistik und Publizistik an der FU Berlin in verschiedenen Redaktionen überregionaler Zeitungen wie tageszeitung (taz) und Frankfurter Rundschau als Leiter des Feuilletons. Zuletzt war er als Chefkorrespondent der Berliner Zeitung tätig.
Literatur
- Thomas Brechenmacher: Judentum; in: Theodor Fontane Handbuch. Band 1, hrsg. von Rolf Parr, Gabriele Radecke, Peer Trilcke und Julia Bertschik, De Gruyter, Berlin/Boston 2023, S. 1200–1207 [erste Seite].
- Norbert Mecklenburg: Fontane und die Juden. Ressentiment mit schlechtem Gewissen und besonderen Finessen, in: ders.: Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt und Ressentiment, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018, S. 194–218.
Weblinks
- Dossier von Dr. Felix Sassmannshausen: Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin, erstellt im Auftrag des Ansprechpartners des Landes Berlin zu Antisemitismus, 2021.