von Tilman Krause, Publizist
Das Fontane-Jahr 1998 ist vorüber. Es wurde auch Zeit. Beflissen haben wir uns gegenseitig unserer Begeisterung für ihn versichert, haben beifällig zur Edition seiner Ehebriefe genickt, konnten anhand einer aufsehenerregenden Berliner Ausstellung feststellen, daß Fontane sich (bei einem gebildeten Menschen selbstverständlich) auch für Malerei interessierte, was Leser von „L’Adultera“ sich schon fast gedacht hatten. Vor allem aber durften wir uns, nach der Wiederbegegnung mit „Irrungen, Wirrungen“ oder „Frau Jenny Treibel“, beruhigt bescheinigen: Auch wir besaßen doch einmal, was so köstlich ist und was man sonst nur Franzosen, Skandinaviern und Angelsachsen zutraut: den realiengesättigten Gesellschaftsroman urbanen Zuschnitts. Brav die Gebote ästhetischer Korrektheit berücksichtigend, hat nicht ein einziger Gedenkartikel den oft leerlaufenden Konversationston der Fontaneschen Romane kritisiert, jene jung und alt in den Mund gelegten Hausvater-Weisheiten, die auf die Dauer genauso penetrant wirken wie Fontanes Behaglichkeits-Ton, der eher den Ohrensessel im Krähwinkel heraufbeschwört als die beschleunigte Modernisierung der Reichshauptstadt nach 1871 und der dafür sorgt, daß, wer Fontane verschenkt, den Sherry zum Buch immer gleich mitliefern möchte. Nun sollten wir es freilich mit der Nestbeschmutzung nicht übertreiben und dankbar sein für die landeskundlichen Possierlichkeiten, die wir mit den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ unser Eigen nennen können oder den skeptischen Humanismus eines „Stechlin“ und die Motivkunst einer „Effi Briest“ achten. Auch die Reserviertheit Fontanes gegenüber dem Deutsch-Weltanschaulichen, das im Wilhelminismus besonders grassierte, sein Bestehen auf dem Primat der Erfahrung vor aller Spekulation, schließlich seine Fähigkeit zur Selbstironie berühren ja durchaus sympathisch.
Theodor Fontane. Gemälde von Carl Breitbach (1883)
Quelle: Privatbesitz
Dennoch: als Gesellschafts- und Milieuschilderer, als Zeitdiagnostiker und Stimmungsmaler hat er einen gewichtigen Konkurrenten, für den das abgelaufene Jahr gleichfalls Jubiläumscharakter hätte haben müssen, wenn wir den Mut aufbrächten, auch das in unserem geistigen Erbe anzuerkennen, was aus dem Rahmen fällt. Wir sprechen von dem verführerischen Erzähler Eduard von Keyserling, dessen 80. Todestag 1998 lediglich dadurch begangen wurde, daß man einige seiner wichtigsten Werke wieder aufgelegt hat, überwiegend resonanzlos, wie man leider sagen muß. Einen „Fontane in Moll“ haben schon die Zeitgenossen den 1855 geborenen Keyserling genannt. Die Aszendenz von dem 35 Jahre Älteren ist offenkundig. Aber auch die Unterschiede fallen ins Gewicht. Sie vermögen übrigens auch, zumindest teilweise, zu erklären, warum dem baltischen Edelmann die Popularität des märkischen Bürgers versagt blieb. „Es fehlt bei Keyserling“, schrieb Thomas Mann in seinem Nachruf auf den Kollegen, mit dem er im München der Jahrhundertwende oft zusammenkam, „die Breite, der lange Atem, die gesunde Furchtlosigkeit vor dem Langweiligen“, welche Fontane eignete. Keyserlings Werk sei „schmaler, graziler, später, wählerischer, es hat nervöseren Puls; der Blick auf das Leben ist kälter geworden, die Ironie geistiger, das Wort präziser, der Gesamthabitus ungemütlicher, künstlerischer und weltläufiger – man spürt die Europäisierung der deutschen Prosa seit 1900.“ Hinzusetzen muß man: Keyserling ist pessimistischer, unversöhnlicher als Fontane. Und er ist elitärer, was seiner Beliebtheit hierzulande natürlich besonders beeinträchtigt hat.
Lovis Corinth: Eduard Graf Keyserling (1900)
Quelle: Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek München,
Apropos „Europäisierung der deutschen Prosa“: anders als Fontane hat Keyserling die Einflüsse von Turgenjew, Tschechow und Herman Bang verarbeitet, mithin die impressionistische Erfahrung sich anverwandelt, allerdings angereichert durch einen nun doch wieder sehr deutsch wirkenden Seelenton, der aber, ganz dem Lebensgefühl des gesamteuropäischen fin de siècle entsprechend, in eine morose Müdigkeit, in einen Mangel an Lebensmut umschlägt. Das alles ist nicht nur viel weniger bodenständig als die Welt vor allem der „Berliner Romane“ des alten Fontane. Keyserling, der sich im Grunde nur für die Lebenssphäre des baltischen Adels interessierte, in der auch seine nach 1900 geschriebenen Erzählungen und Romane ausschließlich spielen, ist zudem viel weniger Panoramatiker als Fontane. Wo der auf breiter Leinwand in Öl malt, strichelt Keyserling auf Oktavformat. Seine Bücher sind auch keine Tourismus-Angebote für die Anhänger literarischer Zeitreisen, die von der Belletristik die historische Epochendarstellung erwarten. Gleichwohl sind die Themen der Zeit durchaus präsent: Die Sehnsucht nach dem großen Gefühl, das Leiden an den lebensverhindernden Konventionsschablonen der gehobenen Stände, Unbehagen in der Kultur, Einsamkeits- und Entfremdungsgefühle, dekadente Nervenschwäche – all dies kommt vor, aber es erhellt eher wie der Blitz hier einen Konflikt, unterspült dort kaum merklich eine dramaturgische Konstellation, ohne daß Keyserling dies ausführlich dokumentierte, wie es Fontane in seinen Romanen tut. Dabei ist die Haltung existentieller Distanz für Keyserling ähnlich bestimmend wie für Fontane. Nur kommt sie bei ihm nicht vom Alter, sondern erklärt sich aus seiner Krankheit. Keyserling litt bereits als Mitvierziger an Rückenmarksschwund. 1907 wurde es so schlimm, daß er erblindete und fortan ans Bett gefesselt war. Aber gerade in seinem letzten Lebensjahrzehnt gab er literarisch sein Bestes. Der Roman „Dumala“ (dtv, München, 128 S., 12, 90 Mark) erscheint 1908. Es folgen dicht aufeinander 1910 „Wellen“ (Steidl, Göttingen, 200 S., 20 Mark), 1913 „Abendliche Häuser“ (ebd., 175 S., 20 Mark) und 1914 die Erzählung „Am Südhang“ (Reclam, Stuttgart, mit einem Nachwort von Richard Brinkmann, 88 S., 4 Mark).Sie alle sind Geschichten gebremster Aufbrüche. In den bekannteren, auch geschätzteren Romanen „Wellen“ und „Abendliche Häuser“ handelt es sich, epochentypisch, um Frauen, die den Weg ins Offene wagen. Aber immer geht es schief. Am Ende triumphiert die erstarrte Welt des Herkommens, triumphieren die alten Herren.
Tels-Paddern (Tāšu-Padure Manor; 2008)
Foto: Laima Gūtman
„Abendliche Häuser“ beispielsweise, die Geschichte zweier gescheiterter Ausbruchsversuche von Fastrade, ihres Zeichens Baronesse Warthe auf Schloß Paduren in Kurland, geht folgendermaßen zu Ende:
,Nichts Neues in der Gegend?‘ fragte der Baron Warthe. ‚Nein, nichts‘, erwiderte der Baron Port, ‚Gott sei Dank ist hier alles wieder ruhig.‘ – ‚Das ist gut‘, meinte der Baron Warthe in belehrendem Stimmtone, ‚man hat im Leben ja seine Unruhe gehabt, nun will man Ruhe im windstillen Winkel.‘
Drei junge Männer sind tot, einer im Krankenbett gestorben, der zweite im Duell gefallen, der dritte durch Selbstmord geendet, Fastrade sowie zwei weitere junge Frauen bleiben zerstört und zerbrochen zurück. Aber die Alten, in grausigem Behagen, lachten bei dem Gedanken an den guten Padurenschen Rotwein. So der letzte Satz. Interessanterweise und für einen Mann seiner Generation eher untypisch zeigt Keyserling allerdings auch das sogenannte starke Geschlecht bei seinen erfolglosen Emanzipationsversuchen, ohne es jedoch als „verweichlicht“ zu denunzieren. Wie Fastrade wartet beispielsweise Dietz von Egloff, ein Zyniker aus enttäuschter Sehnsucht nach Selbstverwirklichung, auf das große, starke Leben. Nicht anders geht es Karl Erdmann von West-Wallbaum in der Erzählung „Am Südhang“ oder dem Pastor Erwin Werner in „Dumala“. Flüchtet sich Dietz von Egloff aus den „Abendlichen Häusern“ noch standesbewußt in die Leben und Verantwortung ersetzenden Beschäftigungen Jagd und Glücksspiel, so sympathisiert der soeben zum Leutnant ernannte Karl Erdmann in „Am Südhang“ auf bedenklich passive Weise mit der Todesgefahr: er erwartet das Große, die Hauptsache von einem Duell, an dessen Vorabend ihn die von ihm verehrte Daniela nimmt, wie man in diesem Fall nur sagen kann, dem drohenden Tode eine seltsam erotische Färbung beimischend. Ganz und gar dem männlichen Rollenkodex zuwiderhandelnd sucht der Pastor im baltischen Dumala die Selbstermächtigung in Gesang – und Mord, eine wahrlich nicht ganz alltägliche Kombination. Gesang, sonst bei Keyserling vorwiegend Domäne verblühter Mädchen – Gertrud heißt eines, in „Abendliche Häuser“ – wird gleich zu Beginn des kleinen Romans „Dumala“ auf eine so rührende, aber auch komische Weise als Surrogat für Sexualität geschildert, daß man nur staunen kann über die raffinierte Erzählstrategie dieses kalt blickenden Autors, der seine Figuren gleichwohl nicht verrät. Es war zu schön, wie der Mann, von der Musik hingerissen, sich wiegte, wie er wuchs, größer und breiter wurde, wie all das Süße und Starke, all die Leidenschaft herausströmten, schildert Keyserling, aus der Perspektive der vernachlässigten Pastorenfrau mit ihrer kleinen, legitimen Sinnlichkeit, einen Hausmusikabend bei den Werners. Natürlich ist es Schubert, den man im trauten Beieinander zu Gehör bringt. (So fängt es bei Gertrud in „Abendliche Häuser“ auch immer an, bis es dann etwas ganz Süßes sein muß: Mendelssohn.) Doch zurück zum Pastorenhaushalt.
Das ganze Haus, bis in den Winkel, wo die Katze am Herde schlief, klang wider von den wilden und schmelzenden Liebestönen. […] ,Wie Siegfried!‘, kam es leise über die Lippen der kleinen Frau. ,Wer?‘, fuhr Pastor Werner auf. ,Du‘, sagte seine Frau. Werner lachte spöttisch, wandte sich ab und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. So war es jedesmal, wenn er sich im Singen hatte gehen lassen. Dann kam der Rückschlag.
Post musicam omne animal triste! Die Pastorenfrau weiß, da helfen nur noch gefüllte Pfannkuchen. Und gottergeben tischt sie sie auf. Im weiteren Verlauf der Handlung wird Pastor Werner seinen Mitprätendenten um die Gunst der schönen Baronin Karola umzubringen versuchen, einen weitgehend beschäftigungslosen Adeligen übrigens, der aber Bonmots von abgefeimter Geschliffenheit zu produzieren imstande ist. Nachdem er jene Brücke über den Abgrund – eines von Keyserlings die Nähe zur Kolportage nicht scheuenden Dingsymbolen –, welche der Baron Rast passieren muß, wenn er zu Karola strebt, um die wenigen stabilen ihrer Bretter erleichtert hat, warnt Werner den Baron dann doch in einer dramatischen Winternacht-und-Nebel-Szene vor der Todesgefahr, die er jenem just bereitet hatte.
Das Ende auch von dieser Geschichte ist, daß alle einsam sind, wofür Keyserling diesmal ein besonders schönes Bild einfällt: Ach, Kind! Was wissen wir, was verstehen wir von dem, was in anderen vorgeht, sagt Werner – wahrscheinlich ebenfalls in belehrendem Stimmtone – zu seiner kleinen Frau. Dann aber:
Wie die Pakete im Güterwagen, so stehen die Menschen nebeneinander. Ein jeder gut verpackt und versiegelt, mit einer Adresse. Was drin ist, weiß keines vom anderen. Man reist eine Strecke zusammen, das ist alles, was wir wissen.
Also doch nur wieder deutsche Depressions-Literatur und somit die Kehrseite jener Innerlichkeit, der wir doch das Eigentümlichste verdanken, was deutsche Geistigkeit hervorgebracht hat? Jein! Die von Keyserling geschilderten Lebens- und Liebesverfehlungen sind deprimierend, wohl wahr. Aber sie sind angereichert mit den Finessen, Brechungen, literarischen und sonstigen Anzüglichkeiten, die den Artisten ausweisen. Davon haben wir nicht viele. Halten wir uns also an Keyserling – und, trotz allem, an den alten Fontane!
Zum Autor: Tilman Krause, Publizist; war von 1998 bis 2024 leitender Feuilletonredakteur der Tageszeitung „Die Welt“ und ist seit dem 1. Januar 2025 WELT-Autor.
Quelle
Tilman Krause: Der Fontane in Moll. Ein Plädoyer für den zu Unrecht vergessenen Erzähler Eduard von Keyserling. In: Die Welt, 9.1.1999.
Weblink
- Peter Czoik: Eduard von Keyserling; in: Eduard von Keyserling
Literatur
- Eduard von Keyserling: Schwüle Tage. Erzählungen. Nachwort von Martin Mosebach. Manesse, Zürich 2005.
- Eduard von Keyserling: Im stillen Winkel. Erzählungen. Nachwort von Tilman Krause. Manesse, Zürich 2006.
- Eduard von Keyserling: Wellen. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Radecke. Reclam, Stuttgart 2018.
- Eduard von Keyserling: Schwabinger Ausgabe: Band 1: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hrsg. und kommentiert von Horst Lauinger. Manesse, München 2018. Band 2: Feiertagskinder. Späte Romane. Hrsg. und kommentiert von Horst Lauinger. Manesse, München 2019. Band 3: Kostbarkeiten des Lebens. Gesammelte Feuilletons und Prosa. Hrsg. und kommentiert von Klaus Gräbner und Horst Lauinger. Manesse, München 2021.