Eva Strittmatter und Fontane – eine literarische Nachbarschaft

von Gabriele Radecke und Robert Rauh

Sie „lebe in einer schon Monate währenden Fontane-Zeit“, schreibt Eva Strittmatter zwei Jahre vor ihrem Tod. Und nennt explizit dessen Kindheitserinnerungen in Neuruppin, wo auch sie – rund hundert Jahre später – geboren wurde. Eine Stadt, die eine lebenslange Inspirationsquelle für ihr lyrisches Werk blieb: eine „Stadt, die ich liebte, die mich liebte“. Dennoch verbindet man die Schriftstellerin Eva Strittmatter (1930–2011) weniger mit ihrer Geburtsstadt, als vielmehr mit Schulzenhof – ihrem späteren, nur eine halbe Stunde Autofahrt entfernten Lebensmittelpunkt.

Das verwundert nicht. Obwohl in Neuruppin außer Eva Strittmatter noch weitere prominente Künstler wie der Architekt Karl Friedrich Schinkel oder der Musiker Ferdinand Möhring zur Welt kamen, scheint es in Neuruppin nur den einen „großen Sohn der Stadt“ zu geben. Das Stadtbild wird von Theodor Fontane (1819–1898) dominiert: Es reicht vom Fontane-Denkmal über das Fontane-Haus, die Fontane-Buchhandlung und die Fontane-Festspiele bis hin zum Fontane-Döner. Während das Fontane-Gedenken in der „Fontane-Stadt“ (1998) eine jahrzehntelange Tradition und zuweilen kultische Züge angenommen hat, wird an Eva Strittmatters Wohnhaus lediglich mit einer schlichten Gedenktafel und zum Geburtstag mit eher leisen Tönen erinnert.

Gedenken in kleinem Kreis: Eva-Strittmatter-Platz in Neuruppin, links das Geburtshaus „Schlossgarten“
Foto: Robert Rauh

Die von einer privaten Initiative organisierte Kranzniederlegung auf dem Eva-Strittmatter-Platz geht jedes Jahr in kleinem Kreis und ohne Möhring-Chor über die Bühne. Und eine erste Ausstellung – kuratiert vom Literaturmuseum der Akademie der Künste – über ihre Jugendzeit, in der die Schülerin immerhin zu dichten begann, wurde im Neuruppiner Museum erst 2025 – fünfzehn Jahre nach Strittmatters Tod – gezeigt. Fontane hingegen, der nur die ersten Lebensjahre in Neuruppin verbracht hat, bekam von den Neuruppinern schon neun Jahre nach seinem Ableben ein imposantes Denkmal gestiftet.

Eva Strittmatter scheint nicht richtig in die Fontane-Stadt zu passen. Auch die Rezeption sieht nicht sie in Fontanes Tradition, sondern ihren Schriftsteller-Mann: Erwin Strittmatter, den seine Biografin Annette Leo als potentiellen „Fontane-Nachfolger“ in die Diskussion brachte. Dabei gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Die überraschendste: Beide äußerten sich auffällig wenig über ihre Kindheit in Neuruppin. Bei Eva Strittmatter war diese Zeit in der Forschung bisher sogar eine biografische Leerstelle.

Er dominiert die Stadt: Theodor-Fontane-Denkmal in Neuruppin, Postkarte, um 1930
Quelle: Regionalverlag Neuruppin

Rilke statt Fontane

Im Leben der jungen Eva, geborene Braun, spielte Fontane zunächst keine Rolle. Den Neuruppiner Über-Dichter lernte sie als Kind eher zufällig kennen: an einem Winterabend, als sie und ihr Bruder von der Mutter hinaus in die Kälte geschickt wurden, um den Vater aus der Kneipe zu holen. Der „Fehrbelliner Hof“ befand sich am Fontane-Denkmal. Als die Geschwister dort auftauchten, wurde Friedrich Braun, ein „Luftikus“ und „Schuldenmacher“ wie Fontanes Vater, von seinen Saufkumpanen „vollgepöbelt“ – und blieb beim Bier.

Obwohl Fontane im Nationalsozialismus an „höheren Lehranstalten für Mädchen“ zum Kanon des Deutschunterrichts gehörte, scheint er auf die bekennende Vielleserin keinen Eindruck gemacht zu haben. Die Schülerin fühlte sich eher von anderen Autoren angezogen. Die Jugendbuchausgabe „David Copperfield“ von Charles Dickens, die ein Onkel als Weihnachtsgeschenk an die bücherlose Familie Braun verschickt hatte, war für das Mädchen eine „Erweckung“. Nie habe sie „die Bewegung vergessen, den Rausch, in den ich fiel“. Gegen Kriegsende las sie in einem „Zirkel für Literatur“ erstmals lyrische Texte von Rilke und Droste-Hülshoff. Vor allem von Rilke war sie so beeindruckt, dass sie ausgewählte Gedichte aus dessen „Stunden-Buch“ (1905) abschrieb und ihrer „lieben Mutti zum Weihnachtsfest 1947“ schenkte. Und ihren ersten lyrischen Versuchen, die sie als Vierzehnjährige (1944) in zierlicher und feinsäuberlicher Reinschrift in ein blaues Notizbuch eintrug, stellt sie als Motto einen Goethe-Vers voran.

Es gibt auch keinen Beleg, dass sie von Fontane im Germanistik-Studium an der Berliner Humboldt-Universität (1947–1951) sowie während ihrer Tätigkeit als Lektorin beim Deutschen Schriftstellerverband der DDR (ab 1951) oder als Autorin für die Literaturzeitschrift NDL (ab 1953) inspiriert wurde. Dass sie Fontanes Werke kannte und schätzte, liest man nur zwischen den Zeilen. In ihrem autobiografischen Buch Mai in Piešťany (1986) beispielsweise verweist sie zwei Mal auf Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. 

Kein Fontane-„Rausch“ in ihrer Jugend: Die junge Eva Strittmatter, geb. Braun, 1945
Quelle: Literaturarchiv der Akademie der Künste, Berlin

Nachbar in Landschaft und Geist

Erst im Alter gerät sie in eine „schon Monate währende Fontane-Zeit“. Strittmatters Reflexionen über ihre Lektüreerlebnisse im Nachwort ihres Gedichtbandes Wildbirnenbaum (2009) offenbaren eine tiefe Verbundenheit. Sie liest „wieder“ den Fontane-Roman Schach von Wuthenow und bezeichnet „Rittmeister von Schach, der aus einem nichtexistenten Schloss Wuthenow am Ruppiner See stammt“, als ihren Nachbarn. „All diese Fontaneschen Gestalten sind mir so nah, so vertraut wie auch die Orte und Landschaften, in denen sie leben, sich bewegen und begeben, sie stimmen so zu mir, so mit mir überein wie auch seine Gedichte mit mir übereinstimmen, die oft einfältig schlichten, die mit dem Leben einverständig sind“. Dass sich beide zeitlebens von der „Kindheitsstadt“ (Eva Strittmatter) und der märkischen Landschaft inspirieren ließen, brachte Fontane den Ruf eines Heimatdichters und Eva Strittmatter den einer Naturlyrikerin ein. Diese Schublade klemmt, wenn man sich den politischen Fontane erschließt und in Strittmatters Gedichten unerwartet Kritik an „Ideologien“ entdeckt. 

„Mein Nachbar in Landschaft und Geist“: Eva Strittmatters Reminiszenz an Fontane in ihrem Gedichtband „Wildbirnenbaum“, 2009
Quelle: Aufbau-Verlag 

Am Ende „schließt sich der Kreis“. Ihr letzter Gedichtband „heißt zum Gedächtnis Fontanes“ Wildbirnenbaum. Obwohl dessen Birnbaum im märkischen Ribbeck aus der berühmten Ballade – „ein so schönes menschliches Gedicht“ – wenig mit dem Ort „Wildbirnenbaum“ oberhalb Tbilissis in Strittmatters „Kaukasusgedicht“ Erinnern zu tun hat. Nur sie allein wisse, „was und wo der Wildbirnenbaum ist“. Letztlich geht es jedoch nicht um Orte und Bäume, sondern um eine literarische Seelenverwandtschaft. Fontane sei, schreibt sie am Schluss, „mein Nachbar aus Neuruppin und mein Nachbar in Landschaft und Geist“. 

 

Titelbild

  • Eva Strittmatter, Porträt, 1997; Quelle: dpa – Bildfunk Foto: Paulus Ponizak

Quellen

  • Ausstellung „Stadt, die ich liebte, die mich liebte“ – Eva Strittmatter und Neuruppin des Literaturarchivs der Akademie der Künste, Berlin (2025).
  • Gabriele Radecke/Robert Rauh: Eva Strittmatter in Neuruppin – dem Ort ihrer Jugend und ersten Liebe; in: Berliner Zeitung, 5.2.2025

Literatur

  • Eva Strittmatter, Wildbirnenbaum: Gedichte, Aufbau-Verlag, Berlin 2009.
  • Eva Strittmatter: Leib und Leben, von Irmtraud Gutschke, Aufbau-Verlag, Berlin 2008.

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