Die Flötenfinger des Birnbaums

Hans Hartig (1873–1936): „Oderlandschaft“, Gemälde von 1910

von Kerstin Hensel, Schriftstellerin

Hier herrscht noch die vaterländische Semmel.
– Theodor Fontane, aus: „Das Oderland“ –

Gruß aus dem Oderbruch

Hier radelt’s sich wie auf offener See
Auf- und ablandig wehet der Ost
Die Oder kommt nieder Die alte Frau Boskop
Tausendfach trächtig
Geht in die Knie
Die Flötenfinger des Birnbaums: gnadenlos
Treiben sie aus Kein Kronprinz keiner spielt nichts
Grenzfestes mehr
Meister Bockert flaggt seine Burgen
Seelower Seelen: Schwärme von Weißlingen
Trinken den Sumpf

In die Pedale! Auf in das mir jährlich selbstverordnete Frei-Atmen-Areal, ins offenliegende Gehöft der Freunde, ins Oderbruch, nach Osten, weit hinten, wo die Landkarte Deutschlands weißflächig und nur noch dünn beschriftet ist, in Richtung zum blauen Breitstrich Oder, slawisch am Zungengrund strudelnd: Odra, die Flussader, das heißt: sich zum Meer hin öffnend. Durchtreten! Ja, es riecht ozeanisch, Gewürze von Wellen und weiten Himmeln, das Aroma ausufernder sanfthügeliger Landschaft, durchsetzt mit Flussärmchen, Gräben, feuchten Vogelwiesen. Polderland, wie ich es aus dem Niederländischen kenne, mit der Lockung eines nahen Ufers, an das Brandung schlägt, Gischt schäumt, von Gezeiten blanklegt oder überschwemmt. Doch hier ist das Meer fern, das Delta des Flusses: ein Binnendelta, mit sich beschäftigt. Das Grenzgewässer Deutschland-Polska: in heutiger Gelassenheit, flach, dusterschön strömend. Um ans Meer zu kommen, müsste man ein paar Stunden stromabwärts schippern, durchs Poldergebiet bei Schwedt, durch ein Stück Uckermark, durchs Westpommersche, wo sich der Fluss teilt in Ost- und Westoder, sich weiter, in Seen und Nebenarmen vertrödelt und abermals vereint. Im Stettiner Haff feiern Oder, Ücker, Peene, Randow und Zarow Boddenhochzeit. Hernach nimmt sie die Ostsee auf.

Flach, dusterschön strömend: Oder bei Reitwein (Märkisch-Oderland)
Foto: Robert Rauh

Die Luft kündet also von großem Wasser. Und schmeißt sich an mich in steifen Brisen und stürmischen Böen, als ob es ein Schiff klarzumachen gilt. Hätte ich Segel am Fahrrad, müsste ich den Kurs ändern und mich zurückdrängen lassen ins innere Preußen, von wo aus ich gestartet bin. Von Berlin nach Gusow. Mit dem Regionalzug. Standesgemäß! Auch Fontane hat seine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ selten per pedes unternommen und sein Recherchetausenderlei nicht nur auf Spaziergängen in der Realität abgezählt. Das Oderbruch ist kein klassisches Fußwandergebiet und war es niemals. Also hat der „märkische Goethe“ öfter das verlässlichste Nahverkehrsmittel seiner Zeit bemüht: die Kutsche. Spät am Abend mahlte sich unser Fuhrwerk wieder durch den Sand zurück, schrieb er über den Weg, der ihn nach Schloss Kossenblatt führte. Auch Schiff und Dampfeisenbahn gab es damals schon, sogar den Bahnhof Seelow-Gusow. Das Fahrrad freilich, was noch ohne Kettenantrieb rollte und Laufmaschine oder Draisine hieß, wird über Land kaum wegtauglich gewesen sein.

Im märkischen Nest hält der Zug extra für mich. Ich hieve das Fahrrad aus dem Wagen, steige auf den Sattel und bin, sobald der Zug weg ist, von Stille umgeben. Karte, Kompass, die Nase nach’m Wind. Oder gegen ihn. Gucken, wo man ist, auch wenn man’s kennt. Gusow. Vor sechshundert Jahren soll es ein vornehmes, munteres Dorf gewesen sein. Heute empfängt es den Besucher mit sommerwarmem Gähnen. Immerhin gibt es einen See und ein Schloss. Beides menschenlos, doch gepflegt, als sei es in zivilem Gebrauch.

Am See das Schild mit der Aufschrift BADESTELLE. Enten und Blässhühner wissen den Hinweis zu schätzen. Ich auch, nur will ich die Vögel beim Gründeln nicht stören.

Nicht weit vom See das Schloss. In musealer Zurückhaltung präsentiert es seine an Schinkel geschulten Umbaumanierismen nebst angrenzendem Park. Das Rad an die Brückenbrüstung gelehnt, setze ich ein paar Schritte in den von Buchsbaumhecken gesäumten Innenhof.

Präsentiert seine an Schinkel geschulten Umbaumanierismen: Schloss Gusow
Foto: Jonas Becker, 2024

Recherchetausenderlei: Fontanes Lageplan vom Schloss Gusow im Notizbuch A8 (1860)
Quelle: Digitale Notizbuchedition, hrsg. von Gabriele Radecke

Altluft. Der Wind ruht hinterm Park. Und plötzlich, da die Stille nun doch aus sich herauszutreten gewillt ist, steht der Kerl vor mir! Dem Gemäuer ist er entschlüpft, dem Mulm des Schlossgrabens entstiegen oder einfach, in seiner Macht als barocker Haupt- und Herrengeist, vom düsteren Himmel der Geschichte herabgefallen. Nun baut er sich vor mir auf, in einer Rüstung aus lichtem Eisen, Reitstiefeln, ledernem Beinzeug, über dem Harnisch, ein Lätzchen: das Jabot; Allongeperücke, französisches Bärtchen, Dreispitz. – „Tach, Herr Derfflinger“, höre ich mich sagen. Die Korrektur folgt aus rostiger Kehle: „Generalfeldmarschall Georg von!“ – „Oh“, erwidere ich, „Wie ich sehe, sind Sie immer noch im Dienst.“ – „Jawoll!“, krächzt der harsche Geist, „was sind schon ein paar hundert Jährchen, die man sich nach seinem Tode noch gönnt? Ich war es schließlich gewesen, der diese Adelsbutze samt den verrotteten Dörfern ringsum …“ – er macht eine große klappernde Geste – „gekauft und unter mein Aufbaukommando gestellt hat!“ – „Ei, gewiss, wer weiß das nicht zu schätzen?“ Ich ertappe mich, wie ich einen Knicks vollführe. Der alte Derfflinger fasst mich, ohne dass ich es merke, am Arm und leitet mich durch sein Anwesen. Dabei prahlt er von seinen Heldentaten, wie er die Gegend wieder fit gemacht habe, vor allem Gusow, wo er nach seiner Militärkarriere im Dreißigjährigen Krieg Schwerter gegen Pflugscharen getauscht und seine Liebe zu Bäumen und Blumen entdeckte. Nur sein Tod, bemerkt er zerknirscht, wiege zu leicht: gewöhnliche Greisigkeit sei eines Derfflingers unwürdig gewesen, ebenso was nach seinem irdischen Ableben mit dem Schloss geschah – nun ja! Es wurde barockig umgemodelt, gräflicher Sommer- hernach Witwensitz, Weltkriegsaltersheim, Wehrmachtsgefechtsstand, nach Hitlers Niederlage Sowjetarmee- und Getreidelager, schließlich Kindergarten sowie Geflügelrupfanstalt! – „Heute gibt es daherinnen immerhin ein Museum, eine Zinnsoldatensammlung, sowie ein Zimmer, in dem man den Bund der Ehe schließen kann“, versuche ich den Geist zu trösten, in der Hoffnung, dass er mich aus seinen eisernen Zwängen entlässt. – „Zinnsoldaten!“, scheppert des Generalfeldmarschalls Zunge: „Darauf ein prächtiges Salute!“ – So plötzlich, wie er gekommen war, verschwindet er. Ich wische mir Rostspuren vom Arm, steige wieder aufs Rad und fahre weiter meinem Ziel entgegen. Alles hübsch. Nur manchmal, am Rand eines Brachfeldes oder im aufgeworfenen Areal eines abgerissenen Gehöftes, dringt etwas aus dem Boden, als wüchse es gegen die Anmut der Landschaft. Es sind von der Zeit untergepflügte Schädel- und Gliedmaßenknochen gefallener RussenPolenDeutscher, samt deren „Hundemarken“. Namen, Kennziffer, Kompanie, Blutgruppe: Höllenobolusse, die niemals verrotten. Mitunter treiben, wie rostige Pilze, auch Handgranaten, Bomben und Panzerfäuste aus der Erde.

Die Oder kommt nieder. Sie dehnt sich aus, öffnet ihre Arme/Schenkel, gebiert Tiefenströmungen und Legenden. Breitlaufend, gurgelnd, eine raue Bäuerin. Wie fast jeder Flecken, über den Geschichte gegangen ist, den der heutige auf Spektakuläres getrimmte Tourist meidet, zeigt sich das Land in zurückweisender Ruhe und Versöhnlichkeit. Bruch, Broich, Brook, Brouch = der Sumpf. In dessen vernässten, schlammigen Böden Historie versinken kann. Ruhe unsanft! Das Oderbruch als von Menschenhand überformte Landschaft: versumpft, entwässert, verdammt, eingedeicht, geflutet, besiedelt, besetzt, beackert, bekriegt, befriedet und besungen, entlässt vielerorts stets wieder das, was wir vergangen glauben. Es kommt uns hoch, ob wir wollen oder nicht.

Ich fahre im Frieden dahin – frisch asphaltierte Radfahrstreifen, Kopfpflasterstraßen, Feldwege mit Grasnarben und Schottern. Noch immer drückt der Wind von vorn. Rechtslinks Felder, Auen, Gräben, Luche, die alte Oder: kleine Flussarme, die vor langer Zeit durch den Bau von Durchstichen entstanden sind und sich seitdem gemächlich durch die Landschaft fädeln. Stopp an einem von Kirschpflaumenbäumen gesäumten Weiher. Die Früchte sind reif, süß und locken mit solcher Üppigkeit, dass ich ein paar als Proviant einpacke. Unkenrufe. Kranichtröten. Noch immer kein Mensch. Nirgends. Ein Schwarzstorchpaar bezeugt rotschnäbelig klappernd seine Zeugungslust. In der Ferne eine Erntemaschine, die Schwaden ockerfarbigen Staubs dem Wind überlässt. Alleen verwilderter Birnbäume, die Frühfrüchte für Würmer und Wespen abwerfen. Eisenbahnschienen, an die ich, nach Kundschafterart, das Ohr lege, um aus der Ferne herannahende Züge zu erlauschen. Kein Summen, kein Vibrieren. Ich fahre fort, linksrechts Stallungen, Gärten, Häuser. Kleinstädtisches taucht auf.
Ich bremse. Jemand steht über mir und schaut, auf einen Krückstock gestützt, auf mich herab: der Alte Fritz – hammerhart in Bronze gegossen.

Da steht er nun, behütet und bekränzt: Denkmal Friedrichs II. in Letschin
Foto: Robert Rauh

Ich habe Letschin erreicht, den Ort, wo Fontanes Vater eine Apotheke führte und wo heute die Statue des Preußenkönigs Tradition bewahrt. Ich weiß nicht, warum sich gerade die historischen Haudegen dieser Gegend vor meiner kriegsablehnenden Person lebendig machen wollen – sie können wohl einfach ihr Mundwerk nicht halten. Während ich Fritzens Stiefelspitze berühre, verrät mir der Bronzene allerhand Bizarres: wie er 1905 als Denkmalheld feierlich hier, in der heimlichen Hauptstadt des Oderbruchs, enthüllt wurde, vierzig Jahre lang Patina ansetzen durfte, von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges jedoch schnöde vom Sockel gestoßen und 1945 zum Tod durch Schrottpresse verurteilt wurde. Vaterländisch beherzte Letschiner freilich hätten ihn, sagt er, gekapert und in einer Gurkeneinlegerei versteckt. Dort säuerte er nun ein paar Jahre vor sich hin, polizeilich gesucht, vom Volke bewacht, mehrfach ans Licht gezerrt, wieder eingesperrt, in den Graben geworfen, in Heu versteckt, mit der Axt versehrt und neu geehrt. „Preuße sein ist schließlich eine Ehre und kein Vergnügen!“, tönt der Bronzene. – Nun weiß ich längst, wie die wilde Statuenkarriere endete: Als 1980 in der DDR-Hauptstadt überraschenderweise sein Reiterstandbild unter den Linden neu aufgepflanzt wurde und im Ostfernsehen Filme über Preußens Glanz & Gloria liefen, entschlossen sich einige Letschiner, ihrem Fritz ebenfalls neu die Ehre zu geben. In einer Nacht- und Nebelaktion, an der sogar der Abschnittsbevollmächtigte der Polizei beteiligt war, sei er kurzerhand wieder in den öffentlichen Raum gestellt worden – und zwar: an die Bushaltestelle. Ohne Krückstock, denn der war durch die Wirrnisse abhandengekommen. Der Witz wirkte, doch Humor zählt nicht zu den preußischen Tugenden. Abermals führten Bürger und Behörden ein politbürokratisches Trauerspiel auf, bis der Oderbruchheroe offiziell nach Berlin zur Restaurationskur geschickt und schließlich, kurz nach der „Wende“, in der Ortsmitte wieder auf Granit gestellt wurde. Da steht er nun, behütet und bekränzt, schwatzt und guckt über mich hinweg. Ich salutiere, kaufe mir beim Bäcker noch eine vaterländische Semmel nebst einem „Kaffee to go“ und dann:

In die Pedale! Weiter! Die halbe Strecke ist geschafft. Aus Letschin raus, kurzer Abstecher zur Bockwindmühle, in deren hölzernem Bauch Väter mit ihren Söhnen zwecks Anschauung historischer Mehlmahldetails herumklettern.

Anschauung historischer Mehlmahldetails: Bockwindmühle in Wilhelmsaue (Gemeinde Letschin)
Foto: Robert Rauh

Natürlich hatte der Alte Fritz auch beim Bau von Windmühlen seine Finger im Spiel, und was immer sich hierzulande drehte, drehte sich um ihn. Jetzt kommt der Wind von der Seite. Die Häuser vereinzeln sich. Felder, Weiden, Obstbäume. Eine Herde Motorradritter röhrt auf der Landstraße an mit vorbei. Dann wieder Stille. Posedin, Neuendorf, Solikante, Richtung Oder, wo mich die Freunde in ihrer Loose erwarten. Loose, ein plattdeutscher Begriff, der etwas bezeichnet, das es nirgendwo sonst auf der Welt gibt: Frei in der Feldflur, scheinbar regellos zwischen den Ortschaften liegen einzelne, bis zu fünftausend Quadratmeter große Bauernhöfe. In der Zeit, da Friedrich II. die Urbarmachung des Bruchgebietes sowie die Erhebung der kleinen Fischerdörfer zu stattlichen Landwirtschaftsgemeinden in Angriff nahm, besaß er zwar bald reichlich Nutzflächen, doch zu wenige Arbeitskräfte. Der Kapitalismus klopfte an die Tür, forderte Einlass, und kurzerhand siedelte Fritz Familien aus Rhein- und Friesland, Polen, Böhmen, Hessen, Österreich und Frankreich auf dem fetten Ackerboden an. Grundstücke mussten aufgeteilt werden, und in einem komplizierten Regel- und Rechtssystem wurden zahlreiche Areale unter den Kolonisten verlost. So kam es zu den Loosen, von denen viele, zumindest äußerlich erkennbar, bis heute die Zeiten überdauert haben.

Auch meine Freunde haben – fast zweihundert Jahre später – das große Los gezogen: abseits des Dorfes Ortwig, nur für Kenner auf holprigem Pfad zu erreichen, in gnadenloser Einsamkeitsidylle zwischen Mais-, Erbsen- und Tabakfeldern gelegen, haben sie seit vierzig Jahren ihren Lebensmittelpunkt gesetzt. Die Keramikerin und der Veterinär. Mit ihnen: Kinder, Katzen, Kunst und Freunde. Umstellt von historischen Ställen, Scheunen und Wirtschaftshof, zentriert vom Garten, der sich in die Feldlandschaft öffnet, mit Blicken wie übers Meer. Die „alte Frau Boskop“ holt mich vom Rad und begrüßt mich. Wann immer ich hier eintreffe, ist sie die Erste, die mit knarzender Stimme zu erzählen beginnt: ihre Geschichte, nach welcher der berühmte Dichter Fontane leibhaftig während seiner Wanderung durchs Oderland von ihren Früchten genascht haben will. Frau Boskops Krone strahlt. Sie stützt ihre mit pfundschweren Äpfeln behangenen Gliedmaßen auf der Wiese ab. Der arthritische Stamm geht in die Knie. Trotz ihres Alters ist sie „tausendfach trächtig“.

In der Küche gibt es Hallihallo mit Apfelkuchen. Die Früchte allerdings hat nicht die alte Boskopin, sondern ihr Sommerkonkurrent, der Klarapfelbaum, spendiert. Er wächst im Obstbaumteil des Gartens dicht neben Frau Boskop, rühmt sich seiner Jugend sowie der Frühreife seiner Früchte. Während sich die Pflaumen-, Kirsch- und Quittenbäume bemühen, das Prahlen der auseinanderliegenden Generationen um die jeweiligen Vorzüge ihrer Art zu überhören, singt Frau Birnbaum, auch Gute Graue genannt, ihr Loblied. Aus ihren Zweigen und Ästen, weiß sie stolz zu berichten, werden seit alters her Flöten geschnitzt. Und das Flötenspiel sei es schließlich gewesen, in das sich der preußische Kronprinz einst rettete, um der Hölle seiner Kindheit und Jugend zu entgehen. Vom tyrannischen Vater niedergehalten, lernte der junge Fritz heimlich Traversflöte, spielte mit Freund Katte recht anstößig im Duett und wollte gar Preußen den Rücken kehren. Der Fluchtplan wurde enttarnt, Vater Friedrich Wilhelm sprang im Dreieck und ließ Katte vor den Augen seines Sohnes einen Kopf kürzer machen. Leider muss die Gute Graue eingestehen, hat das feinsinnige Instrument, das angeblich aus eigenem Holz gefertigt wurde, es nicht geschafft, dem Fritz fürderhin das Soldatische auszutreiben. Er, der gnadenlos gedemütigt wurde, setzte auf gnadenlose Herrschaft. – Ich höre dem Schwätzen der Obstbäume noch eine Weile durchs offene Fenster zu, bevor ich mich in menschlicher Gesellschaft niederlasse.

Der Apfelkuchen wird mit Sahne gekrönt. Am Tisch zwischen Hausherrn Jörg und Hausherrin Daphne sitzt Arkadiusz, der polnische Handwerker. Er hat die Scheune, die als Keramikatelier dient, mit Betondachsteinen gedeckt und genießt nun seinen Lohn. Wir essen, trinken, werten miteinander das Leben aus. Daphne führt mich durchs Atelier, treppauf in die inzwischen auch als Galerie ausgebaute Tenne, zeigt mir den neuen Brennofen, aktuelle Kreationen ihrer Töpferarbeit, sowie Arkadiusz’ Meisterwerk, das windfest ewige Sicherheit verspricht. Inzwischen macht sich Jörg auf den Weg zum sechsundneunzigjährigen Nachbarn. Der Bauer war zeitlebens nie beim Arzt. Nun, da ihn am Lebensende doch noch das Zipperlein heimzusuchen droht, wendet er sich kurzerhand an den vertrauten Viehdoktor. Der wohnt nur drei Äcker weiter, und was meinen Pferden hilft, hilft auch mir, meint der Bauer. Eine von Jörg verordnete Pille, die bei Gnadenhofbewohnern zum Einsatz kommt, hält ihm nun Leib und Seele frisch.

Die Kunst des Lebens und die Kunst an sich. Das Oderbruch ist voll von Abseitigem, Bedrückendem, Kuriosem – und eben Kunst. Bereits in den 1960er-Jahren haben sich in Loose-Gehöften berlinflüchtige Maler, Bildhauer und Keramiker niedergelassen. Hier war man am schönsten Arsch der Welt und konnte dieselbe mit einer gewissen Leck-mich!-Freiheit betrachten. Anders als die landwirtschaftlich malochenden Oderbrücher, die sich an die kunstsinnigen Kolonisten nur langsam gewöhnen konnten. Das Bruchgebiet in sozialistischen Zeiten war keine Weitblickidylle: kriegsversehrt, als Grenzregion abgeriegelt, dünnbesiedelt, zwangskollektiviert, dicht besät auf tonigem Boden, kraut- und rübenrollig, kartoffelschwer, gemüsefett, die Löhne mager. Genossenschaftliches Vieh, das das Land nährte; Kombinate für industrielle Mast, verrohrte Felder, verfallende Dörfer. Die Kinder von Golzow [Filmische Langzeitdokumentation (1961–2007) über die Schüler einer Schulklasse aus dem Oderbruch-Dorf Golzow, Regie: Barbara und Winfried Junge.] zeigen das Elend vertaner sozialistischer Utopie: ihr stockendes, oft glückloses Dahinleben, das einer wirklichen Idee und erst recht dem freischwebenden Künstlerdasein entgegenstand. Keiner dieser Menschen hat je etwas vom grenzüberschreitenden Gefühl, dem Geistiges oder Künstlerisches entwächst und zu dem es trachtet, erfahren können oder wollen. Nach 1989 fiel die profane Arbeitswelt im Oderbruch zusammen. Der Abriss war radikal, wie kaum in einer anderen ostdeutschen Region. Noch heute liegt fast der gesamte Landstrich wirtschaftlich im Graben. Auch wenn auf den Feldern der Mais blüht und die Erbsen aus den Schoten springen. Gegen Insolvenzen, Arbeitslosigkeit, Wegzug, Nachwuchssorgen, Winterdepression und Verfall stellt sich als bunte Bastion einer Daseinsmöglichkeit Kunst & Kultur. Ob Künstlerhöfe, -häuser, -speicher oder -scheunen von Altranft bis Neuküstrinchen, ob die offenen Ateliers der „Kunst-Loose-Tage“, das bezaubernde kleine „Theater am Rand“ bei Zollbrücke oder die Edelkulturhochburg Schloss Neuhardenberg – im Oderbruch gibt’s ein Weiter-Leben. Zumindest für die, die eine Chance und ein Gespür dafür haben. Und die es sich leisten können.

Daphne und ich steigen auf die Räder. Der Wind schleicht sich. Wir fahren aus dem Anwesen Richtung Ortwig-Graben, vorbei an Kirche, Kita, Kriegerdenkmal. In Feldgehölzen: Ruinenreste versunkener Loosen. Mal ein leergewohnter Stall, mal ein verwilderter Obstgarten. Pferdekoppeln, Start- und Landebahnen für Bussarde, Gänse, Fasane. Eine Ricke, die bellend durchs Roggenfeld springt. Sie sucht ihr Kitz, das am gegenüberliegenden Feldrain seinerseits die Mutter sucht. Bauminseln. Ein frei stehendes Häuschen, vom Boden bis zum Dach mit Rank- und Kletterpflanzen überwuchert, lädt zum Spekulieren ein. Wer, außer Mäusen und Spinnen, mag darin wohnen? Aussteiger? Pflanzenköstler? Eine verlandete Odernixe? Wir schwenken ab nach Groß Neuendorf, an dessen Dorfrand sich ein winziger jüdischer Friedhof befindet. Wie in einem ummauerten Gärtchen stehen ein paar Matzewot, restauriert, doch von der Zeit zerbissen, und erzählen im Wechsel von Glanz und Elend der Geschichte: ein zur Idylle geronnenes Bild. Ein paar hundert Meter weiter endlich der Fluss!

Grasbewachsen, flokatiweich und seltsam saftig: Blick vom Deich auf die Oder
Foto: Robert Rauh

Der Biber ist los. Als Erstes beschert er mir nasse Socken. Die Oder im Blick, mit der Zuversicht, auf der sicheren Seite zu sein, habe ich den Deich betreten. Er ist grasbewachsen, flokatiweich und seltsam saftig – da zieht’s mich runter: eine Biberrutsche, die mich ins Wasser befördert. Jedenfalls meine Füße, denn Familie Bockert hat ihre Burg (Viadrus sei Dank!) am seichten Nebenarm des Flusses errichtet, sodass ich gleich wieder herausspringen kann. Hier baut man gemäß dem Motto „My home is my castle“. Gefällte Bäume, Holzspäne mit Biberzahnmuster, aus Zweigen, Ästen und Schilf kunstvoll geflochtene Staudämme, Tunnel und Kessel in bester Wasserbaumeisterqualität. Der deutsche Biber ist ein guter Biber: er ist fleißig, Vegetarier, lebt monogam, hat gesunde Zähne, kann gut schwimmen und verteidigt seine Grenzen mit Bibergeil. Naturgeschützt durchnagt er ungestraft das gesamte Oderbruch und ist doch possierlich anzuschauen, wenn er, im Wasser schwimmend, den Landbewohnern mit breitem Schwanze zuwinkt. Auf seinen Burgen stehen Banner, an denen jeglicher Feind seine Regentschaft ermessen kann.

Viadrus, Vjodr, Oddara, Uder, Odra, Uodra, Wodra, Oder: der fünftgrößte Fluss Deutschlands, der breithüftig, maßvoll doch – je nach Wetterlage – auch dünnbrüstig daherkommt. Sie kann sich ausweiten, unverhofft aus dem Bett steigen, Deiche brechen, überströmen, Straßen fluten, Felder in Seenflächen verwandeln, Dörfer unterspülen, die Mächtige spielen. Oder die beleidigte Verliererin, so wie im Jahr 2018, dessen Jahrhundertsommersonne Bäche und Flüsse leer getrunken hat. Auch die Oder, die an einigen Stellen nur noch als kachektisches Rinnsal dahindümpelte und anklagend ihre Bodenschätze blanklegte: Muscheln, Schlick und tote Fische. Sie kann auch, wenn der Winter stark genug ist, bis auf den Grund verreisen. Die Oder umgibt kein romantisches Mythos wie Rhein, Donau, Elbe oder Moldau. Dennoch ist sie legendär. Ihr Image heißt Mühsal & Schweiß, Rauheit. Wasserkatastrophen. Ihr Gott: Viadrus, der im Haar Schilfblätter und in der Hand ein Ruder trägt. Über die Jahrhunderte hat die Politik den Strom mehrfach fragmentiert und letztendlich einen europäischen „Schicksalsfluss“ aus ihm gemacht. Doch ist über die Oder kein erwähnenswerter Vers geschrieben und kein Lied gesungen worden. In der regionalen Sagenwelt tummeln sich gerade mal ein paar Nixen, heilige Schlangen und andere Unterwassergestalten. Fontane hat sich vor allem für das Leben auf der Oder interessiert, für ihre Flöße und Schleppdampfer und was jenseits des Ufers vorging.

Daphne und ich stehen an unserer Lieblingsstelle hinterm Deich. Kein Mensch weit und breit. Linksrechts Schilf, Erlengewächs, Weiden. Der Flussausläufer schimmert in der Sonne. Libellen, Wasseramseln; eine Sumpfschildkröte, die bei Meister Bockert zu Besuch ist. Im Flachen tummeln sich Myriaden von Wasserflöhen – „Daphnien!“, wie Daphne mich namensstolz zu belehren weiß. Gegenüber, am westpommerschen Ufer, hinterm Dörfchen Czelin (Zellin), ein Angler, der auf den großen Hecht wartet. Hechtreißer nannte man früher in Wriezen, als die Stadt noch an der Oder lag, die Fischer, die die massenhaft vorkommenden Hechte sogar mit Händen fingen. Die Zeiten sind vorbei. Statt des Hechtes gerät dem Angler eine kapitale Quappe an den Haken. Auch gut, wird er denken, rollt die Angelschnur ein, nimmt den Fisch und geht nach Hause. Wir wandern noch durch die Flussnatur. Ein Frieden zum Dahinschmelzen.

Am Abend erwartet uns Arkadiusz tatsächlich mit einem Hecht: gebraten auf polnische Art, mit Speck, Sellerie und Meerrettich. Dazu Bier zum Überschäumen. Wir sitzen im Garten, besprechen das Wachstum der Salbei- und Rosmarinsträucher, hören dem Dämmerungsrauschen der Obstbäume zu, und Daphne greift nach dem hochziehenden Vollmond wie nach einer Töpferscheibe. Zu später Stunde spielt Jörg sein musikalisches Talent auf der Querflöte aus: königlich-sanssoucische Töne, komponiert von F. II, die er mit der herben Anmut eines Heilkundigen versendet. Arkadiusz, der am nächsten Morgen den verschütteten Hofbrunnen freilegen wird, zieht sich in sein Gastarbeiterstübchen unters Dach zurück. Auf dem Feldweg, der zur Loose führt, tauchen die Ricke und ihr Kitz auf. Nach langer verzweifelter Suche haben sie sich wiedergefunden und laufen nun vereint zurück in ihr Wäldchen. Plötzlich: hinterm Feld ein Schrei, Klirren von Glas, Kläffen, Mannsgebrüll. Jörg wird übers Telefon gerufen. Er deckt hierorts alles ab: Wund- und Seelenversorger, Geburts- und Sterbehelfer, Polizei.

Jeder Tag meiner Frei-Atem-Woche beginnt mit dem Windgruß vorm großen Scheunengebäude, dessen gelbes Ziegelmauerwerk von lauter sternförmigen Wunden überzogen ist. Sie stammen von Granatsplittern, die im April 1945 bei der Schlacht um die Seelower Höhen auch das Ortwiger Loose-Gehöft getroffen haben. Langlangistshersonahsonah, der Endkampf um Berlin, Fünfzigtausend Tote unter den Erdschichten der Endmoräne – Morgensonne überm Oderbruch, die große Reinemachfrau, die das Gedächtnis zu putzen versucht. Arkadiusz mit Hacke und Schaufel am Brunnen vor dem Tore. Er wird die Kröte erschlagen, die darinnen sitzt und das Wasser vergiftet. Schubkarren voller Schutt. Arkadiusz wischt sich den Schweiß von der Stirn und lacht mir zu. Hinter der Scheune eine Niederung, aus deren modrigem Boden Unmengen kleiner Schmetterlinge emporsteigen: Schwärme von Weißlingen, die den Sumpf trinken. Ich gehe auf Spurensuche der Vergangenheit, Daphne an ihre Töpferarbeit, Jörg zum kranken Nachbarn. Gegen Mittag sammle ich letzte Klaräpfel von der Wiese, von denen Frau Boskop behauptet, sie seien mehlig, wurmig und ungenießbar. Ich solle auf den Herbst warten, wenn ihr Nachwuchs reif ist! Ich verspreche es! Die Gute Graue winkt mir zum Abschied mit all ihren Fingern. Am Abend werden wir noch einmal unter der Mondscheibe sitzen, und morgen heißt es wieder: in die Pedale! Heimwärts, Rückenwind, der starke Schieber – ein Stück die Oder entlang durch Kienitz, dann, als hätte ich sämtliche Segel gesetzt, runter nach Genschmar, Golzow, Alt Tucheband, Lebus, Wüste Kunersdorf bis Frankfurt, eine Tagestour.

Zur Autorin: Kerstin Hensel, deutsche Schriftstellerin, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, und Direktorin der Sektion Literatur sowie Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste.


Quelle

  • Kerstin Hensel: Die Flötenfinger des Birnbaums; in: Wandern und Plaudern mit Fontane. Literarische Begegnungen mit der Mark Brandenburg heute. Hrsg. von Gisela Holfter und Godela Weiss-Sussex. Quintus-Verlag, Berlin 2019, S. 15–27.

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