von Luise Berg-Ehlers, Schriftstellerin
Wer an der Küste aufwächst, hat einen weiten Blick über das Meer und möchte in die Ferne, möchte die Welt erkunden, denn hinterm Horizont geht es weiter und man entkommt der Provinz. Für Theodor Fontane hieß die Provinz „Mark Brandenburg“, das märkische Neuruppin, wo er geboren wurde, doch er verbrachte prägende Kinderjahre in Swinemünde (heute Świnoujście) an der Ostsee, zu seiner Zeit eine lebhafte Hafenstadt, an deren Kais Schiffe aus aller Welt festmachten. Der Hafen war für die Jungen ein Abenteuerspielplatz, und mit den Segelschiffen – die überseeische Dampfschifffahrt entwickelte sich erst später – reiste man in der Phantasie zu fernen Abenteuern. Dazu trug nicht unwesentlich die Tatsache bei, dass in dem Ort Menschen aus vielen Ländern Europas lebten.
Hafen von Swinemünde
Quelle: zeitgenössische Postkarte
In seinen Erinnerungen „Meine Kinderjahre“ schreibt Fontane, dass der Bewohnerschaft jener Stadt alles Spießbürgerliche fremd gewesen sei, weil sie einen ausgesprochen internationalen Charakter hatte. Man traf auf Repräsentanten aller nordeuropäischen Völker, seien es Dänen, Schweden, Holländer oder Schotten, und wahrscheinlich waren es diese Begegnungen, die Fontanes Begeisterung für den Norden bewirkten. Vielleicht hätte er nach diesen Erfahrungen die markante Feststellung aus seinem letzten Roman „Der Stechlin“ (… hinterm Berge wohnen auch Leute) ein wenig abändern müssen: Weit übers Meer und hinterm Horizont wohnen auch Leute.
Und da jetzt das Stichwort „Norden“ gefallen ist, begleiten wir Fontane nach Dänemark, obwohl seine ersten Auslandsreisen auf die Britische Insel gingen. Während all seiner Reisen erleben wir den Autor als „frühen Europäer“ aus der Mark, der ein für die damalige Zeit beachtliches Verständnis für andere Länder und andere Nationen erkennen lässt. Wir sehen ihn als weltläufigen und weltoffenen Berliner, der aber trotz aller Toleranz eine kritische Sicht auf die Welt beibehält, und das ist auch und gerade in der heutigen Zeit von nicht geringer Bedeutung.
Die erste Reise nach Dänemark im Frühjahr 1864 absolvierte ThF als Kriegsberichterstatter, der die militärischen Ereignisse aus preußischer Sicht und mit einem gewissen patriotischen Unterton darstellt. Der deutsch-dänische Konflikt, der seinen Höhepunkt in der neuen Verfassung erlebte, mit der König Christian IX. das Herzogtum Schleswig stärker an Dänemark binden wollte, führte zum Einmarsch der Preußen und Österreicher, deren Übermacht die Festungsanlagen beim Danewerk und die der Düppeler Schanzen (dän. Dybbøl skanser) sehr bald überwand.
Schloss Gottorf heute
Foto: Luise Berg-Ehlers
Die Reise folgt den Spuren der siegreichen Heere und führt über Hamburg und Kiel in den Norden. Die Anmerkungen in Fontanes Notizbuch würden in den ersten Tagen eher das Bild einer touristischen Unternehmung zeichnen, wenn nicht die Begegnungen mit den vielen Soldaten wären. Hamburg ist immer wieder schön und lachend und dazwischen Hannöversche Jäger. Kiel hat ein unschönes Schloss, und die Stadt ist voll von Militair und die ganze Jugend spielt Soldat. Dann nach Schleswig. Die Lage ist hübsch und ziemlich malerisch, und das Schloss Gottorp ist ein stattlicher Bau, aber ohne alle Schönheit.
Fontane: Notizbuch D1, Blatt 22r
Quelle: Digitale Notizbuchedition, hrsg. von Gabriele Radecke
Allerdings übersieht Fontane dabei, dass Gottorf (so der deutsche Name) von den Dänen zu einer Kaserne bzw. zu einem Lazarett umgebaut wurde, und als solches dient es nun den Österreichern. Die haben sich zur weiteren Rekreation im Kellergewölbe eine Gaststube eingerichtet.
Österreichisches Militär in der „Kantine“ von Gottorf (1864)
Quelle: Die Gartenlaube
Künstlerische Schönheit wird erst im Schleswiger Dom dem Holzschnitzaltar von Brüggemann zugestanden.
Schloss Gravenstein (dän. Gråsten Slot)
Quelle: zeitgenössische Postkarte
Doch nicht nur Gottorf verfällt einem Verdikt Fontanes. In dem Kriegsbuch urteilt er über das Schloss Gravenstein (dän. Gråsten Slot), der preußischen „Kommandozentrale“ während des Kampfes auf dem Sundevitt (dän. Sundeved), dass ihm das Leben fehle wie nahezu allen Schlösser Dänemarks. Sie sind öde; etwas unheimlich Mährchenhaftes ist um diese weißen sonnenbeschienenen Wände her, daß man denken möchte, hier sehen Gespenster zu Mittag aus allen Fenstern heraus. Und doch wiederum fehlte ihnen der Spuk, so fehlte ihnen das Beste, das sie haben. Abgesehen davon, dass Fontane generalisiert, ohne allzu viele dänische Schlösser zu kennen, so ist doch bemerkenswert, wie er in einen Sachbericht Poetisches integriert – und sei es nur die Imagination von Schlossgespenstern. Heute steht zwar nicht das Schloss, wohl aber der zugehörige Park Besuchern offen, sofern nicht die königliche Familie ihre Sommerferien dort verbringt. Und wer sich in die frühere Zeit zurückversetzen möchte, geht in den alten Krug, den „gamle Kro“ schräg gegenüber dem Schloss an der Slotsgade, in dem sich schon die Soldaten 1864 gestärkt haben dürften.
In den Gräben von Düppel (1864)
Quelle: Die Gartenlaube
Von Schleswig geht es über Flensburg nach Düppel, und wenn auch nicht mehr geschossen wird, so sind hier der Krieg und seine Folgen noch sehr präsent. Fontane besichtigt das Schlachtfeld, sieht in die dänischen Gräben und in die preußischen Parallelen, und ist bemüht, das Kampfgeschehen nachzuvollziehen. Bei diesem Besichtigungsgang entdeckt er überall noch die Spuren des Krieges, die Hinterlassenschaften der Soldaten, was er entsprechend beeindruckt in seinem Notizbuch vermerkt. In den Parallelen fand ich: Tornister, Patronentasche, Wehrgehenk […], Kommißbrot, Stiefel, Helmreste […] Granatsplitter und Kugeln. Die zerstörten Stellungen, die zahllosen Überreste des tödlichen Geschehens machen noch Wochen nach der Schlacht deutlich, wie hart gekämpft wurde.
Preußischer Krankenwagen bei Düppel (1864)
Quelle: Die Gartenlaube
Allerdings bemerkt Fontane nur das, was vom Kriege materiell übrigbleibt, und nicht das tatsächliche Grauen, das die Soldaten durchstehen mussten: das infernalische Trommelfeuer der Granaten, der Anblick der Verletzten und Toten, der Geruch von Blut, Tod und Verderben.
Propstei in Broacker neben der Kirche
Foto: Luise Berg-Ehlers
Von Düppel fährt Fontane nach Broacker (dän. Broager) und schwärmt fast von diesem Ort. Broacker bot alles, was sich billigerweise erwarten ließ: buntes Treiben, Neuigkeiten, Gasthöfe und relativen Komfort, vor allem bot es auch ein kostbares Stück Landschaft: einen Propsteigarten, einen malerischen Friedhof und auf demselben eine prächtige alte Kirche, gotisch gewölbt, mit zwei hohen Türmen. („Aus dem Sundewitt“, 1864) Besonders bemerkenswert, worauf auch Fontane hinweist, ist die farbenfrohe Kanzel mit interessanten Schnitzereien – und deutschen Inschriften.
Die Kirche von Broacker (dän. Broager)
Foto: Luise Berg-Ehlers
Der Kirche kam in der Schlacht eine wichtige Funktion als Observatorium zu, da hoch oben auf dem Turm ein Beobachter die feindliche Stellung im Auge hatte. Fontane ist sehr aufmerksam über den Friedhof gewandert und hat manches Grab in seinen Text aufgenommen. Auch heute ist der Kirchhof – nicht nur für Historiker – interessant, auf dem viele Gefallene beerdigt sind. Dort wurde z. B. der Pionier Carl Klinke bestattet, dessen aufopferungsvoller Einsatz – jedenfalls nach Aussage einiger Zeugen – zum Durchbrechen der Schanzen verhalf. Dessen Andenken verklärte Fontane in seinem „Düppel-Gedicht“, in dem er Klinke (Ich heiße Klinke, ich öffne das Tor!) eine ganze Strophe widmet, denn eine Ballade braucht natürlich Helden!
Grab von Karl Klinke
Foto: Luise Berg-Ehlers
Und auch den Leutnant von Seydlitz würdigt er namentlich.
Grab des Leutnants von Seydlitz
Foto: Luise Berg-Ehlers
Auf diesem Friedhof, der eigentlich nur für die Dorfbewohner gedacht war, liegen dänische wie preußische Soldaten nebeneinander, wenn auch die Gestaltung des Gottesackers die einzelnen Gräber mit Hecken umschließt, was anrührenderweise eine Art Geborgenheit im Tode zu vermitteln scheint.
Ein heutiger Besuch von Broacker und des Schlachtfeldes an den Düppeler Höhen ist ein Besuch in ländlicher Idylle – eine Erfahrung, die man auf vielen Kriegsschauplätzen machen kann, wenn im wahrsten Sinne des Wortes Gras zwar nicht über die Geschichte, wohl aber über den Ort historischer Ereignisse gewachsen ist. Nur zahlreiche Kreuze, Gedenktafeln und andere Memorabilien lassen erkennen, wo so viele Menschen sterben mussten und wie jung sie waren, und ein Museum (Historiecenter Dybbøl Banke) gibt es auch zur Erinnerung und zur Mahnung. Etwas irritierend ist bei der Besichtigung der Anlage der permanente „Geschützdonner“, der den Besuchern einen akustischen Eindruck von den Kämpfen vermitteln soll.
Geschütz im Düppel-Museum
Foto: Luise Berg-Ehlers
Wenn man aus dem Museum wieder herauskommt, sieht man auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein nationales Denkmal – die Düppeler Mühle (Dybbøl Mølle ). Während des Krieges 1864 stand sie im Zentrum der Kämpfe, half dem dänischen Militär bei der Übermittlung von Nachrichten und wurde zerstört.
Düppel: Mühle
Quelle: zeitgenössische Postkarte
Nach dem Wiederaufbau diente sie noch bis 1990 ihrer ursprünglichen Bestimmung und wurde dann ein Museum neben dem Historiecenter. Wegen ihrer Bedeutung in den Kriegen im 19. Jahrhundert und der politischen Rolle zwischen Nord- und Südschleswig wurde sie zum dänischen Nationalsymbol. Zugleich aber ist sie auch ein Symbol dafür, wie kriegerische Zerstörungen in friedlichen Neuaufbau gewandelt werden können. Dieser Symbolcharakter hätte Fontane vielleicht gefallen.
Düppel: Mühle (2023)
Foto: Luise Berg-Ehlers
Zur Autorin: Luise Berg-Ehlers, Schriftstellerin und Fotografin.
Quelle
- Luise Berg-Ehlers: Theodor Fontanes Traumorte. Eine besondere Zeitreise von England und Frankreich über Dänemark nach Italien. Elisabeth Sandmann, Frankfurt/Main 2019.
Weblink
- Theodor Fontane: Notizbücher. Digitale Edition, hrsg. von Gabriele Radecke. Göttingen 2015–2020. Fontanes Reise nach Jütland 1864, Notizbuch D1.
Literatur
- Theodor Fontane: Aus dem Sundewitt
- Theodor Fontane: Der Schleswig-Holsteinsche Krieg im Jahre 1864. Verlag der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei (R. v. Decker), Berlin 1866.
- Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman. Hrsg. von Klaus-Peter Möller. Aufbau-Verlag Berlin 2001 (Große Brandenburger Ausgabe, Das erzählerische Werk, Bd. 17).
- Theodor Fontane: Die Reisetagebücher. Hrsg. von Gotthard Erler und Christine Hehle. Aufbau-Verlag, Berlin 2012 (Große Brandenburger Ausgabe, Tage- und Reisetagebücher, Bd. 3).
- Theodor Fontane: Meine Kinderjahre. Hrsg. von Gotthard Erler und Peter Goldammer. Aufbau-Verlag, Berlin, Weimar 1982 (Autobiographische Schriften, Bd. 1).