Blick aus dem Schloss Freienwalde auf die Terrasse
Foto: Robert Rauh
von Ursula Krechel, Schriftstellerin
Schon als der Blick den Regionalzug verlassen hatte, war er übersättigt, als hätte er zu viel Junkfood gegessen. Verbots- und Gebotsschilder, die azurblauen elektronischen Tafeln mit den nächsten Verbindungen und Verspätungen. In 70 Minuten wird der Zug in Kostrzyn sein, das einmal Küstrin hieß.
In 70 Minuten in Kostrzyn: Blick über die Oder auf die ehemalige Festung Küstrin
Foto Robert Rauh
Es ist die Festungsstadt, in der Hans Hermann von Katte hingerichtet wurde. Nachdem das ordentliche Gericht auf lebenslänglich plädiert hatte, griff Seine Königliche Majestät ein und verschärfte das Urteil zu einem Todesurteil. Das Beil im Hof der Festung: Ob der Kronprinz zusah, zusehen musste, von welchem Fenster aus, von welchem Erker oder nicht, ob eine gnädige Ohnmacht ihn davor bewahrte, ist ungewiss. Der Kronprinz, aus dem der Preußenkönig Friedrich II. wurde, ist ein anderer danach. Katte war der Freund des Kronprinzen und sein Fluchthelfer, als dieser desertieren, emigrieren, ein Asyl suchen wollte, nur weg von dem ihm unerträglichen Vaterpreußen. Fahnenflüchtig floh er vor seiner zukünftigen majestätischen Aufgabe. Der Kronprinz wurde aufgegriffen: unfassbar, ja, ungeheuerlich ist seine Tat. Man bringt ihn nach Küstrin, in den einen Teil der Festung, daneben im anderen, im Schatten, in einer Zelle, streng bewacht der Arrestant, der anfangs noch gnädige Richter erwartet, sein Freund Katte: Opfer, Bauernopfer, ein Aufschrei des Entsetzens. Jede Protokollseite könnte eine Daumenschraube sein. Aber die Richter sind ja auch gnädig. Was ist eine lebenslange Strafe unter der Sonne, wenn man eine milde Ewigkeit, die Unsterblichkeit eines Christenmenschen erwartet? Er betet und lehnt sich nicht auf. In deine Hände empfehle ich …, die Hand des Scharfrichters zittert nicht.
Ob der Kronprinz zusah, ist ungewiss: Hinweisschild mit der Aufschrift „Wahrscheinliche Hinrichtungsstätte“ von Katte in der ehemaligen Festung Küstrin
Foto: Robert Rauh
Es ist nicht so, dass das Wandern eine Sache der Kniegelenke und der Fußballen ist. Gut, gut, die aufgerichtete Wirbelsäule, die den ganzen Körper strafft, der Atem, der die Lungenbläschen bläht, sind auch im Spiel, wenn man das Wandern nicht so bierernst betreibt. Vor allem wandert der Blick. Ließ den Blick von einem zum anderen wandern und sagte dann … Ist das ein Halbsatz aus einem Roman, aus einem Fontane-Roman, könnte er es sein? Draußen wandert der Blick an einer Weidengruppe entlang, folgt dem Ruf einer glücklichen frühen Amsel, wandert über eine Wiese mit Bärlauch, oh, es ist früher März, Märzbecherzeit mit einer triefnassen Böschung wie eine Erinnerung an einen Sumpf, und da ist das magere Wäldchen mit Ästen, die sich wie Kinderarme recken. Noch ist alles kahl, das Holz ist geschlagen worden und noch nicht abtransportiert, die Stämme halten den Blick auf. Späne sind über das Moos gestreut, liegen in der tief gekerbten Spur des Traktors. Der Blick wandert und kommt nicht nach Haus. Der Blick hat keinen Rucksack, glücklicherweise, keine Kapuzenjacke, keine Stiefel mit weich ausgearbeiteten, gepolsterten Fersen. Zu keiner Tätigkeit ist er ausgerüstet, er will nichts, nicht einmal das, was er unwillkürlich sieht, und wanderte er nur eine halbe Stunde weiter, dann hieße es: Kippen sind Brandsätze! Achtung, Vogelschutzgebiet! Und da ist schon die sumpfige Wiese, frische Maulwurfshügelchen, die brütenden Vögel verbergen sich. Hunde bitte anleinen! Aber hier ist niemand, weder Hund noch Mensch. Der Blick wird abgewiesen von einer planen Wolkendecke. Der Blick wandert ins Ungefähre. Der Blick ist eine Black Box, also kein Himmel, lauter Irdisches. Rittergut X, eingepfarrt nach Y, General v. Z., 5 Häuser, 91 Einwohner.
Sanftes hellblaues Ameisenmuster auf den Sitzen, makellos, anders als in Berlin. In der Bahn eine junge Engländerin mit einem exakt geschnittenen Bubikopf. Ihr roter Koffer rollt durch das Abteil und muss wieder eingefangen werden. Ihr deutscher Freund erklärt ihr den Unterschied zwischen weiß und weise. Weiße Haut, weise Frau. White und wise, Er schreibt die Wörter auf die Rückseite der Fahrkarte. Ein junger Mann sitzt im Abteil, bisher hat er geschlafen. Jetzt fingert er an seinem Apparatchen, knallbumbum, jetzt ist er wach, und die Mitreisenden erschrecken. Können Sie die Musik nicht leiser stellen? Eine kleine Handbewegung, aber die Musik ist leider nicht leiser geworden. Nicht hinschauen, keine Angriffsfläche bieten, sich nicht provozieren lassen. Schreiben ist ein Schutz. Ein Hochsitz, Schafe auf einer Weide, Mispeln in den hochstämmigen Birken, eine Pferdekoppel mit schweren Gattern ist leer. Was schreiben Sie da? Ich schreibe eben. Sind Sie Schriftstellerin? Ja. Und was genau? Das ist zu kompliziert, um es zu erklären. Die junge Engländerin hört zu und runzelt vor Anstrengung die Stirn. Ein Schluck aus der Bierflasche. Vorsicht Vorurteil! Es ist 11.27 Uhr. Jetzt spricht der Mann mit sich selbst. Der Schaffner kommt, mahnt, bittet um Rücksicht auf die anderen Fahrgäste. Es hilft nichts, und er resigniert. Bloß kein Ärger; der Blick ist jetzt ein Vermeidungsblick. Diese Nacht wird furchtbar sein / wir fallen in die Straßen ein. Ist das Deutschrock oder was?
Und in einer Bank weiter hinten drei, vier Schülerinnenköpfe mit Madonnenhaar, gewaltige Wollschals um die Hälse geschlungen, Augen, die an den Wimmelbildern auf ihren Bildschirmchen kleben. Die Finger rutschen, wischen, tippen. Unendlich viel Zeit, die noch ohne einen einzigen Schritt nach Bad Freienwalde hinein vertrödelt werden darf.
Sehr reizend und sehr ruhig: Blick auf Bad Freienwalde
Foto: AG Städte mit historischen Stadtkernen des Landes Brandenburg
Ein Müllauto donnert vorbei. In der gefräßigen Trommel schleudern aufgerissene Plastiksäcke und Küchenabfälle. Ein Malmen und Widerkäuen im Weggeworfenen bis zur nächsten Leerung. Die AfD Märkisch Oderland lädt ins Café Flügge ein. Auch das Restaurant Zur Jope steht zur Verfügung, und ihm wird im Gästebuch ein volkstümlicher Reim geschenkt: Lecker Essen, kühles Bier, super Stimmung, dass gönn ich mir. Vorsicht, Vorurteil! Der Blick ruft sich selbst zur Ordnung. Der Bürgermeister ist parteilos, die stärkste Partei ist Die Linke. Der Landkreis ist arm und stöhnt. All das kann man nachlesen.
Auf dem Bahnhofsvorplatz sucht der Blick seinen Wanderweg. Wann treiben die Blätter? Alles ist ausgeschildert, nach links und rechts gerichtete betuliche Pfeile, aber die Fußgängerampel ist ausgeschaltet, macht nichts, hier geht eine nette alte Dame an zwei Stöcken. Suchen Sie etwas? Unter den gut restaurierten Häusern in der Bahnhofstraße ist ein einziges dem Verfall anheimgegeben. So ein schönes Haus, sagt sie, schade. An einem Zaun lehnen zwei geschwisterliche Fahrräder mit Werbeschildern über den Speichen. Fahrräder für den Frieden. Teilen, Tauschen, Pflegen, Anleitung zur Selbsthilfe und auf dem anderen steht Schule des Herzens. Entdecken und Fühlen des eigenen Herzens. Das Städtchen Freienwalde ist sehr reizend und sehr ruhig. Hübsches Wort für hübschen Ort.
Es rast ein vornehmes, dunkles Auto vorbei, blitzendes Chrom, eine Politur wie Seide, breites Trittbrett, die Fenster, die man herunterkurbeln kann, sind geschlossen. Der Fahrer trägt eine Schirmmütze, er hat nicht nur die Straße im Blick, auch die Böschung im Augenwinkel, die spielenden Kinder, die von einem Bein auf das andere hüpfen, viel anderes Spielzeug als ein Springseil, das eigene Körperchen mit seiner Geschicklichkeit, haben sie wohl nicht. Er hat eine kostbare Fracht. Der Fahrer heißt Chauffeur, er heizt ein, er bedient die Maschine, er macht sie heiß, das schöne Automobil echauffiert sich, im Fond ein müder Herr, ja, so muss man ihn nennen. Dass er einen Fahrer beschäftigt, trennt ihn schon von der Welt. Das Automobil überholt, ein Pferd trottet heim, das Fuhrwerk ist mit Säcken beladen. Ein Junge sitzt neben dem Bauern, er reibt sich mit dem Ärmel über die Nase und schnieft. Der Herr lächelt, der Junge ist ein Ausrufezeichen des praktischen Lebens, das dem Herrn weitgehend verschlossen bleibt. Er ist niemand, der wandert. Er ist ein Mensch für geschlossene Räume, für kultivierte Räume. Er ist ein Mensch, der gestaltet: die Pflichten der Öffentlichkeit gegenüber, die Häuslichkeit, die Welt, die Politik, die Korrespondenz und den Teetisch. Er aquarelliert, mit seiner Mutter spielt er vierhändig am Flügel. Er hat manikürte Hände, ein wenig manieriert. Vieles tut er, was er nicht tun müsste; er kann nicht anders. Sein Vater hat die Maschinen ins Laufen gebraucht, die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft schnurrt, die Drähte glühen, eine drängende Prosperität, in deren Hinterhaus die Armen leben. Die Arbeiter müssen wohnen und essen, und ihre Kinder brauchen Schuhe.
Er ist niemand, der wandert: Walther Rathenau (1867–1922), zwei Monate vor seiner Ermordung, 1922
Quelle: Walther Rathenau Gesellschaft
Oh, nein, die Glühbirne hat der Vater des Herrn im Automobil nicht erfunden. Er hat das Patent gekauft und das Produkt nach Deutschland gebracht, den Schalter um 90 Grad gedreht, die Lampe brennt, und die Wirtschaft leuchtet. Die Backsteingebäude füllen sich, auf Äckern sind Industriehallen gebaut worden, Turbinenhäuser, Umspannwerke, die besten Architekten für das Unternehmen, Luft und Sonne und große Fenster für die Arbeiter. Bauernsöhne werden Arbeiter, Fehrbelliner, Neuruppiner, Uckermärker, Leute aus dem Oderbruch kommen, Polen, Schlesier. In zehn, fünfzehn Jahren ist ein gigantisches Unternehmen entstanden. Licht an, Licht aus. Wer über die Elektrizität verfügt, schwimmt mit dem Strom. Geplant wird eine Schienenverbindung zwischen einem Fabrikgelände im Südosten Berlins und dem Werksgelände auf dem ehemaligen Viehmarkt und auch eine Untergrundbahn als Verbindung zwischen zwei Arealen. Der Herr im Fond sieht das alles. Er hat es gesehen, er hat sich abgewandt, er will kein Industrieller mehr sein, kein Ingenieurstüftler, keiner, der das Geld scheffelt. Er hat ein großes Vermögen, das Vermögen hat ihn, das Geld arbeitet. Man sagt: Er hat Charisma. Einmal wird er alle Anteile an der AEG abstoßen, aber jetzt noch nicht. Allein der Gedanke erleichtert ihn. Zwischen dem Aktienmarkt und der Ästhetik der Seele ist nur eine schmale Kluft. Eine Zollunion zwischen Deutschland, Österreich, Belgien und Frankreich schwebt ihm vor, ein kühnes Projekt, für das er niemanden begeistern kann. Leichtfüßig wechselt er die Sphären. Edvard Munch malt ihn, er korrespondiert mit Gerhart Hauptmann, mit Rainer Maria Rilke, mit Stefan Zweig, mit Politikern, adligen Damen, Geheimräten — immer in bedachtsamer Formvollendung. Er reist, er kauft Kunst, er ist ein Internationalist. Alles ist da, könnte da sein, doch er sorgt sich, er kümmert sich, ist bekümmert, schreibt ein Buch „Von kommenden Dingen“ und ein Theaterstück, das niemand spielen will. Am Rande des Schlossparks steigt er aus, lässt den Fahrer warten.
Die preußische Geschichte ist ein Schaufelrad, gewaltige Schornsteine, die städtische Kanalisation, dann die Eisenbahnverbindungen, Eberswalde, Wriezen und endlich Freienwalde, da ist das Städtchen schon ein Badeort geworden, ein Eisenbahnknotenpunkt zwischen der Strecke Angermünde – Frankfurt/Oder und Eberswalde – Frankfurt/Oder. Einerseits passt das Rauchen und Fauchen nicht ganz zum Bad, aber andererseits: kommod ist es schon, und es fördert den Tourismus. Der Moorschlamm wird auf Brust und Rücken gepackt; er soll auch die schwarzen Gedanken vertreiben. Viele Juden aus Berlin kommen ins Bad, vorwiegend Kaufleute, die vom Bäderantisemitismus in den modernen Badeorten an der Nordsee und an der Ostsee abgestoßen sind. Kommt Rathenau deshalb nach Freienwalde? Das Städtchen ist so preußisch, dem Königshaus verbunden, und er ist ein bedingungsloser Patriot.
Sie isst viel, vielleicht aus Verbitterung: Friederike Luise von Hessen-Darmstadt (1751–1805), seit 1786 Königin von Preußen
Quelle: Gemälde von Joseph Darbes, ca. 1800, SPSG
Auf der dritten Stufe der Treppe zum Schloss steht die Königin, sie ist eine geborene Prinzessin von Hessen-Darmstadt. Es ist ihr eigener Entschluss, hier zu stehen. Sie hat ein freundliches, offenes Gesicht, ein wenig gerötet. Ja, sie ist oft in der frischen Luft, und sie isst viel, vielleicht aus Verbitterung. Dick ist auch ihr Mann, aber das macht nichts. Er steht ihr fern. Friedrich Wilhelm II., Seine Königliche Majestät, ist eine Enttäuschung, so sagen es die Geschichtsbücher, er hat sein Volk beschämt. Als sich die Nachricht von der riesigen Schuldenlast, die er seinen Preußen aufbürdet, verbreitet, geflüstert, getuschelt, ins Ohr geraunt, ist der Blick betreten. Die Königin hat es schon früh bemerkt, aber alles auf sich bezogen. Er hat zu viele Kriege geführt – mit zweifelhaftem Ergebnis. So kunstsinnig ist er, liebt die plastische Kunst und die Architektur, Marmor und Backstein, Schadow und Langhans. Er baut und baut, lässt sich ein Marmorpalais errichten. Die Mätresse des Königs, Frau Wilhelmine Encke, zur Gräfin Lichtenau geadelt, auf der Pfaueninsel: darüber wird in Berlin viel gewispert und gelacht. Die Königin weit weg am Rand der Märkischen Schweiz, dazwischen lässt Seine Königliche Majestät das Brandenburger Tor bauen. Alle müssen durch, auch er, wenn er zu seiner Geliebten fährt. Alle sind klein unter der Quadriga. Und hier in Freienwalde hält sich die Königin zunächst in der Försterei auf. Während in Frankreich die Revolution tobt, wird ein Logierhaus für adlige Badegäste gebaut, in dem sie die Sommermonate gerne verbringt. Langhans hat ihm seine imponierende Form gegeben, der kräftige Mittelrisalit, darin konkav wie eine Muschel der Eingang. Schließlich zieht die Königin ganz nach Freienwalde.
Es wird ihr Witwensitz: Schloss Freienwalde, Postkarte, um 1900
Quelle: Archiv Rauh
Die Lage ist gut gewählt: Schloss Freienwalde, 2022
Foto: Robert Rauh
David Gilly baut ein Schlösschen; es wird ihr Witwensitz. Die Architektur ist banaler als die des Logierhauses, aber die Lage ist gut gewählt. Der Hügel, auf dem es steht, für brandenburgische Verhältnisse schon ein Berg, fällt nach zwei Seiten steil ab, dahinter lappt die kleine Stadt aus. Rundherum werden im Wald filigrane Lusthäuschen errichtet, Linden, Rüster und Ahorn gepflanzt, der ganze Hang ist nun ein Park. Berge umfassen Freienwalde: einer der Berge wird Monte Caprino genannt, der Kapellenberg, der Poetenberg, der Heidelbeerberg, der Rosmarinberg, der Scheunenberg, der Apothekerberg, der Schlossberg, auf dem das Schloss nicht steht – zur allgemeinen Verwirrung. Ja, es gab schon einmal ein Schloss, ein gräfliches, von dem nichts übriggeblieben ist.
Lieblich erscheint ihr die Gegend im Gegensatz zur Friedrichstadt. Viel träges Wasser, die alte Oder mit ihren Windungen und Wendungen, auch den katastrophalen Überschwemmungen, steile Sonnenhänge, Wälder, weite Ausblicke in die Ebene. Dagegen die ins steinerne Bett gezwängte Spree, die Schlossbrücke spannt sich hochmütig über sie. Unendlich viel Platz hat die Oder mit ihren leisen Buchten, in denen Fischerkähne dümpeln. Wolken, die die Wasseroberfläche streicheln. Jetzt kommen die Wildgänse, ein heftiges Geschwader, das dann auf einer Wiese Rast macht. Der Deich ist so hoch, dass er den Häusern dahinter bis an die Schultern oder schon an die Hutschnur reicht. Weiter hinten eine Pappelreihe. Ist das eine Landschaft oder ein stehengebliebenes Bild?
Wie war der Name?, fragt die Königin versonnen. Eine Kammerfrau flüstert: Herr von Rathenau. Dass er nicht adlig ist, einfach so, ganz und gar bürgerlich, mag sie sich nicht vorstellen. Er hat so ein vornehmes Aussehen. Ich habe nie von Ihnen gehört, sagt die Königin, und wiederholt den Namen, um ihn sich besser einzuprägen. Das ist einer Königin nicht würdig; wäre sie keine Königin, wäre es unhöflich. Der frühere König hätte gefragt: Haben Sie gedient? Er muss nicht dienen, er will dem Staat dienen und einer erneuerten Gesellschaft. Sie schaut ihn an, blauäugig, sanft. Ich habe mir sagen lassen, sie nickt der Kammerfrau zu, dass Sie sich mit Demokratie beschäftigen. Wollen Sie es erklären? Dass sie den Begriff nicht eigentlich versteht, muss sie nicht sagen. Jetzt wäre die Gelegenheit, dass einer ihn ihr verständlich macht. Herr Rathenau zögert nicht. Aber er ist kein Missionar, bald wird er tot sein, erschossen von Feinden der Demokratie. Niemals wird der Tag kommen, an dem der Kaiser auf weißem Ross durch das Brandenburger Tor als Sieger einziehen wird. An diesem Tage hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren, hat er geschrieben, und dieser Satz ist für die Rechten unverzeihlich; von da an ist er ein hochwohlmögendes Freiwild, eine öffentliche Zielscheibe im feinen Grunewald. Und wie er den Begriff erklärt und die elende Praxis, das Feilschen der Parteien, die breitschultrige Mauer der Feinde der Demokratie, die nichts verstehen oder nur das, was sie verloren haben und nun vergolden, wird es kompliziert. Das Wahlrecht und die Koalitionen, welche die Parteien bilden und die nicht immer glücklich enden, der Präsident der Republik, das Parlament, Landesvertretungen, die keine Standesvertretungen mehr sind – es ist ein weites Feld. Der Königin dämmert etwas. Dann gibt es auch keine Königin mehr? fragt sie. Herr Rathenau neigt den Kopf. Kein König, keine Königin, kein Kaiser mit den vielen Söhnen, es ist nicht auszudenken. Rathenau will die Königin schonen, ob er es sanft oder glorios, hilfreich oder eher ungeschickt versucht — es ist ja keine Lösung. Sie merkt es, schweigt und verbirgt ihre Verwirrung. Vielleicht will er eines Tages mein Schloss beziehen. Genau das wird er tun. Jetzt ist es ihr schon gleichgültig. Sie ist zu dick, kurzatmig und resigniert. Könnte ich auch das Volk sein, bin ich das Volk? Ihr fragender Blick spricht Bände. Wir sind das Volk. Der Blick denkt. Ob es protokolliert worden ist: Man weiß es nicht.
In andere Traurigkeit eingetaucht: Ausstellung „Deutsche Tatorte“ an der Fassade von Schloss Freienwalde anlässlich des 100. Jahrestags der Ermordung von Walther Rathenau, 26. Juni 2022 (Ausstellungseröffnung)
Foto: Robert Rauh
Kein Wunder, dass Rathenau einen Scherbenhaufen übernimmt, einen Scherbenhaufen, vor dem einem graust. Er wird alles instandsetzen, dem Schloss die gichtfördernde Traurigkeit austreiben, ruhige Schönheit, Sammlung, er wird schreiben, malen, denken – und taucht in andere Traurigkeit ein. Warten Sie, Sie werden mein kleines Schloss beziehen, hat die Königin auch gesagt. Und das tut Rathenau. Allerdings bezahlt er viel Geld dafür, 250.000 Reichsmark. Ist das Demokratie, und wen schert das? Wer Klassenhass sagt, sitzt im Kohlenkeller, und da ist es dunkel. Eine Unsumme gibt er aus für die ramponierten Böden, die herabfallenden Tapeten, er stutzt den Park auf seine königlichen Maße zurück, schafft Möbel im strengen Klassizismus an. Er ist der erste Diener seines kleinen Schlosses und sein unbestrittener Herr. Schlanke junge Stubenfliegen wimmeln an der Fensterscheibe.
Ein anderer Herr begibt sich in den Oderbruch, wird in brennender Sonnenhitze von einem leichten Wagen aufgenommen; dafür ist er dankbar. Es ist der Herr Fontane. Die Zeit ist ja nicht nur vom März in den August gerauscht, sie hat sich inzwischen hin und her bewegt, was sind die Jahreszahlen, die Seitenzahlen in einem Buch?, sie lassen sich überblättern. Aber sein Urteil ist vernichtend, er findet die Landschaft geradezu trostlos, jedes neue Dorf ärmer als das vorangegangene. Felder so kümmerlich, dass er glaubt, die Halme zählen zu können. Was er übersieht: ein nacktes, bloßgestelltes Wäldchen, das nach einem Forstbeamten schreit. Anderswo, an der Spree zum Beispiel, hat er landschaftliche Kabinettstückchen gesehen. Gut wäre es, in der Hitze eine Viertelstunde zu dämmern. Doch dann hinter Leuenberg wölben sich einige Hügelchen. Oder sind es Bodensenken, über denen sich die Ebene schon ein wenig aufschwingt? Jetzt ahnt man auch langsam, langsam ein wenig Temperament im Märkischen. Der Boden räuspert sich, will anheben zu etwas Großem, das dann nicht eintrifft.
Ein anderer Herr begibt sich in den Oderbruch: Fontanes Gliederung „Freienwalde“ im Notizbuch A9 (1862) für den gleichnamigen Aufsatz und spätere Kapitel im „Wanderungen“-Band „Oderland“
Quelle: Digitale Notizbuchedition, hrsg. von Gabriele Radecke
Wie geht’s? Geht’s gut? Es geht wieder. Der Apotheker hebt die Hand. Das Wasser aus der Eisenquelle in Freienwalde tut den Augen gut. Aber es ist nicht nur diese Quelle; es sind mehrere, die dann aus der Mode kommen. Nun ist es der Schlamm, vielleicht ist es nur aufgerührter Eisenmatsch in den Moorbädern, rasch muss er abgeduscht werden, damit sich keine Ritterrüstung bildet auf der nackten Haut. Und bitte keine Bäder mehr auf den Gästezimmern, die schwarze Brühe spritzt auf das Parkett und auf die Gardinen. Ein Badehaus muss her, eine öffentliche Anstalt. Der Gesundbrunnen rauscht.
Sanft und bedenkenträgerisch stehen zwei Reiher in Feld, sie regen sich nicht. Zwei Schritte weiter neben ihnen wühlt ein Maulwurf. Als Fontane nach Freienwalde reist, lange vor Rathenau, aber das spielt keine Rolle, steht das Schloss leer, etwas heruntergekommen, verrammelt. Nur Jagdgesellschaften nutzen es im Winter. Die Jagdgesellschaften sind schießwütig und trampeln mit ihren erdigen Schuhen auf dem Parkett. Wenn ihre Leute das Wild zerlegt haben, wenn die frierenden Nasen und Fingerspitzen mit Schnaps aufgetaut worden sind, wenn Schnaps nachgeschenkt worden ist, werfen die Jagdgesellschaften spätabends die Gläser an die Wand. Sie singen patriotisch, was man später deutschnational nennen muss, steigen auf Stühle, das Gobelinpolster knirscht und zerrreißt.
Fontane hat die Bahn nach Eberswalde genommen, sie muss feurig gespuckt haben. Und dort wartet die Post, ein Vorläufer des Omnibus, ein Nachfolger der Chaise. Es ist ein Wagen, der im Sommer zwanzig Personen befördern kann. Im Winter fährt er nicht. Bei schönem Wetter wird das wachsleinene Verdeck aufgeklappt, allerdings sind die Fahrgäste dann auch dem Straßenstaub, den aufspritzenden Kieselsteinchen ausgesetzt. Mücken umtanzen den Hut, die nassgeschwitzte Stirn. So richtig zum Wandern ist ihm nicht zumute. Er geht zu Fuß, wenn möglich, aber wenn nötig, entscheidet er sich für ein praktisches Verkehrsmittel. Es gibt fünf Hôtels in der Stadt, wie er sie nennt; also kann er wählerisch sein. Dann kommt Fontane den Hügel hinauf, noch staubig von der Reise, er ist ja nur das letzte Stück gewandert, nun ja, mit offenen Augen durch das Städtchen gegangen, das ihm nun doch sehr gefällt. Der Blick ist wach, die Füße sind ermüdet, je näher, desto besser.
Fontane hat die Bahn nach Eberswalde genommen […] Und dort wartet die Post, ein Vorläufer des Omnibus: „Gleislose Bahn“(O-Bus) in der Eisenbahnstraße in Eberswalde, Postkarte, 1901
Quelle: Regionalverlag Ruppin (Peter Pusch)
Fontane stellt sich selbst vor, und die Verbeugung, die er macht, ist nicht tief. Seit mehr als neunzig Jahren steht die Königin da, und sie wird noch viel länger dort stehen bleiben, damit in Ruhe erzählt werden kann, was erzählt werden soll in künstlich gedehnter Zeit. Rathenau wird ihr aufwarten, in der tickenden Erzählzeit hat er es ja schon getan. Der Blick nagelt sie fest. Die Königin immer noch auf der Treppenstufe, so wirkt sie, als wäre sie einen halben Kopf größer als ihr Besucher, der Herr Fontane. Immer hat er einen Roman im Kopf, und das Gehen hilft, ihn im Kopf weiter auszudenken. Die Gedächtnisleistung ist eine Wolke von Erregung. Der Herr Rathenau ist eine Romanfigur, das hat der Herr Fontane im Urin, obwohl der Ausdruck unfein ist und nicht in einen seiner Romane passt. Eine Romanfigur, aber von wem, wenn er sie nicht erfindet? Er hat mit dem märkischen Adel, einem Landrat, einer schlecht verheirateten Frau alle Hände voll zu tun.
Rathenau in einem Auto, quer durch die Stadt, quer durch die platte Landschaft, ah, und dann der Blick zurück, den er so liebt. Fontane verneigt sich, küsst er die ausgestreckte Hand der Königin, entlässt sie ihn?, jedenfalls ist er fort. Fontane in einem Omnibus, dann zurück in einem Eisenbahnabteil, so ist er schon früher gereist, die nächste Romanseite, die Frau, die Tochter, das Theater, man weiß ja, Bitte um Vergebung. Der freie Schriftsteller ist nie frei, so ähnlich wie die Königin, die beide Herren doch nicht kennen gelernt haben. Dann tritt die Königin ab, die Kammerfrau schließt die Tür. Ihr Sohn, der einmal Friedrich Wilhelm III. wird und seine Frau Luise, ja genau die, die alle lieben werden, besuchen sie noch. Tollende Enkelkinder, ein Schaukelpferdchen in einer Abseite und all das, was die Anekdoten so hergeben.
Ach, die Schnellbahnen, Regionalzüge, Bushaltestellen, tiefsinnigen Sümpfe, energischen Deiche, die Informationsschilder über die Gleise hinweg. Achtung, Lebensgefahr! Der Omnibus, ein Verkehrsmittel für alle, die sich ihm anvertrauen. Der Omnibus wird abgeschafft, er passt nicht mehr in die Zeit. Eine Bahnstrecke wird eingestellt, nichts fährt nicht mehr von und nach Leuenberg, alles tote Hose, dann nach Freienwalde geht’s einspurig. Und die Radfahrwege, die Wanderverhinderer, die Erleichterer einer schnelleren Bewegung, die Kartenleser und Navigationsvertrauten. Sieben Autohäuser, 1 Busbahnhof, 1 Fitness-Center werden gezählt, kein Wagen mit Heu kommt, kein schniefender Bauernjunge, es ist sehr leer im Städtchen, leer ist der Landkreis, 89 Einwohner pro Quadratkilometer, keiner soll gehen, keiner kommt auf Dauer, und der Wald steht still. Am Bahnhof parkt ein Anhänger für den Pferdetransport, er sieht so aus, als habe er schon lange kein Pferd mehr gesehen. Es sind ja jetzt ganz andere Leute, die wandern, mit einem mikroskopischen Blick, der nah und fern ist, einem Blick, der sich vertrauensvoll der Natur andient, an den Hälmchen hängen bleibt, der sich etwas traut und etwas behält. Die Natur wird es schon richten nach der Regenhusche. Das sanft Erwachte auf dem Waldboden, das nie Gesehene, das Raue der Stämme, die der Blick umarmen kann. Der Schriftstellerapotheker, der Preußenversteher, der Aufsichtsratsvorsitzende, der dann Außenminister wird, der Espenblättchenbärlauchblick: es sind die unreinen Mischungen, das unaufgeregte Staunen, die maisgelben Verkehrsschilder mit den aufgeklebten roten Balken und einem Pfeil, der um die Ecke führt. Umleitung!
Zur Autorin: Ursula Krechel, deutsche Schriftstellerin, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz.
Quelle
- Ursula Krechel: Der wandernde Blick; in: Wandern und Plaudern mit Fontane. Literarische Begegnungen mit der Mark Brandenburg heute, hrsg. von Gisela Holfter und Godela Weiss-Sussex, Quintus-Verlag, Berlin 2019, S. 39–50.