Foto: Robert Rauh
von Thomas Hettche, Schriftsteller
Unser Weg führt uns heute nach Karwe, beginnt Fontanes Schilderung des Ausflugs, der ihn vom 18. bis 23. Juli 1859, also exakt einhundertsechzig Jahre vor mir, erstmals ins Ruppiner Land bringt und den Auftakt seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ bildet. Wir haben den Park seiner Länge nach passiert und stehen jetzt vor dem Herrenhause. Es ist einer jener Flügelbauten, wie sie dem vorigen Jahrhundert eigentümlich waren, und erinnert in Form und Farbenton an das Radziwillsche Palais in Berlin. Nur ist es kleiner und ärmer an Rokokoschmuck. Auch das Eisengitter fehlt. Eine hohe Pfauenstange mit einem Pfauhahn darauf überragt vom Wirtschaftshofe her das Dach, und der vorgelegene Grasplatz steht in Blumen.
Erinnert an das Radziwillsche Palais in Berlin: Herrenhaus Karwe, Lithographie, ca. 1878
Quelle: Sammlung Alexander Duncker
Auf eben diesem Wirtschaftshof steht in einer Nacht Anfang Mai 1945 der fünfundsiebzigjährige Erich Levin von dem Knesebeck, genannt Erwin. Er und seine Frau Irmgard sind zu diesem Zeitpunkt die letzten Bewohner von Schloß Karwe, einem Gut, zu dem mehr als eintausend Hektar Land gehören, bewirtschaftet von etwa zweihundert Landarbeitern. Noch ist alles genau so, wie Fontane es beschreibt. Nur sind längt alle vor den Russen nach Westen geflohen, die adligen Gutsbesitzer der Umgegend ebenso wie viele der Bauern. Erwin, den seine Mutter in der Erbfolge übergangen hat, der sich daher nicht als Junker versteht und von den Nazis nicht hatte korrumpieren lassen, hat beschlossen zu bleiben.
Am Morgen haben die letzten versprengten deutschen Soldaten noch auf die heranrückenden russischen Truppen geschossen. Das Paar hat sich im Keller versteckt. Irgendwann waren dann die Geräusche zersplitternder Türen, Schritte und russische Stimmen im Haus zu hören, auch Gewehrschüsse. Als Erwin von dem Knesebeck sich schließlich irgendwann nach oben wagt, trägt er seinen besten Anzug. Im Augenwinkel registriert er die von Bajonetten zerschlitzten Familienporträts, die Einschußlöcher in den Wänden. Der Offizier, der ihn entdeckt, fordert ihn auf, das Schloß, das nun die russische Kommandantur sei, sofort zu verlassen.
Carl Friedrich von dem Knesebeck, Gemälde von Rudolf Schulz, 1865
Quelle: Krafft von dem Knesebeck (Privat, Leihgabe für das Museum Neuruppin)
Unklar, ob ihn das Porträt Carl Friedrich von dem Knesebeck an der Wand daran erinnert, in der Moskauer Militärakademie ein ähnliches Bild gesehen zu haben, oder ihn einfach Erwins Nennung seines Namens an jenen Generalfeldmarschall denken läßt, der seinerzeit im Krieg gegen Napoleon von Berlin nach Petersburg fuhr, um dem Zaren einen Plan vorzuschlagen: Ich sah die unermeßliche Fläche, berechnete die möglichen Märsche des Eroberers, und siehe da, die beiden großen Alliierten Rußlands: der Raum und die Zeit, traten mit einer Lebendigkeit vor meine Seele, die mir keine Ruhe mehr ließ. Zur Gewißheit wurd es mir: so ist er zu besiegen, und so muß er besiegt werden. Jedenfalls gestattet der russische Offizier, dessen Armee gerade auf dieselbe Weise die deutsche besiegt hat, dem alten Knesebeck, alles, was er in einer Nacht tragen könne, aus dem Schloß in die Verwalterwohnung zu bringen, die man ihm zuweisen werde.
Nun gilt es zu entscheiden: Was ist es wert, gerettet zu werden? Kein Meißen, kein Silber. Das Bild des Generalfeldmarschalls, der mit dem Zeigefinger auf die Karte Rußlands zeigt, schneidet Erwin ebenso aus dem Rahmen wie das berühmte, durch Einschüsse schwer beschädigte Bild des Schweißtuchs der Veronika, obwohl es nur eine Kopie ist. Das Original hat man vor langer Zeit einem Preussenkönig geschenkt. Auch der Brief Friedrich Wilhelms IV. wird gerettet, in den er sich selbst hineingemalt hat, nebst seinen Wünschen zu einer Taufe: VIVAT IN AETERNUM GENS KNESEBECKIANA. Und der alte Tisch aus dem Tabakskollegium des Soldatenkönigs, mit dem sich eine Familienlegende verbindet.
Familienlegende: der alte Tisch des Soldatenkönigs
Foto: Günter Rieger
Die Wolken treiben vorüber, der alte Mann steht müde auf dem Hof. Fahrig hält er einen Stapel Papiere. Das alles ist wichtig: Die Pläne des Gutes, die Gedichte des Urgroßvaters, die aus der Kreuz-Zeitung vom 25. Dezember 1859 herausgerissene Seite mit Fontanes Schilderung seines Besuches auf Karwe. Und all die Briefe. Jener etwa des Dichters Kleist an die Frau des Generalfeldmarschalls, seiner Jugendfreundin Adolphine von Werdeck. Ein Windstoß erfaßt die Blätter, entreißt sie dem Alten, treibt sie über den Hof. Mit einem Ächzen läuft er ihnen nach.
Paris, den 28. (und 29.) Juli 1801
Gnädigste Frau,
Erkennen Sie an diesen Zügen wohl noch die Schrift eines Jünglings, die seit sechs Jahren nicht mehr vor Ihren Augen erschien? Können Sie aus ihrer Form wohl noch, wie sonst, den Namen des Schriftstellers erraten, und regt sich dabei in Ihrer Seele wohl noch ein wenig von dem Wohlwollen, von dem sie ihm einst so viel schenkten? Oder ist diese Hand Ihnen unbekannt geworden? Hat sie sich mit dem Herzen verändert? Ist sie alt geworden mit ihm, und muß sie sein Schicksal teilen, weniger Teilnahme zu finden, als in der Blütenzeit der Jugend? – Ach, was ist das Leben eines Menschen für ein farbenwechselndes Ding!
Das Leben ein farbenwechselndes Ding – jeder Kleist-Leser wird bei dieser Formulierung an einen anderen berühmten Brief des Dichters denken, nur vier Monate zuvor geschrieben, am 22. März 1801, an die Verlobte Wilhelmine von Zenge:
Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.
Es bedarf nur eines Schrittes aus Fontanes Julitag hinaus und in die reale Historie hinein, und Kleists Zweifel an unserer Wahrnehmung umgibt uns wie Nebel. Daß wir dabei gleichwohl auf der richtigen, auf Fontanes Fährte sind, zeigt das Echo auf jene grünen Gläser, das dieser in seine Beschreibung eines ganz anderen Schlosses, nämlich desjenigen von Paretz, einmontiert hat. Dort läßt er König Friedrich Wilhelm III. durch ein farbiges Fenster schauen und sagen: Wer die Gegenstände draußen durch diese violettfarbige Scheibe anschaut, hält alles, was er sieht, für violett; so ein anderer alles für grün oder gelb, je nach dem Glas, durch das er blickt.
Auf Fontanes Fährte im Havelland: Schloss Paretz
Foto: Robert Rauh
Für den, der Fontanes Spuren folgen will, heißt das, nicht zu sehen, was er sehen will. Dabei wäre es so einfach: Hundert Meter abseits der Hauptstraßen befindet man sich auch heute noch in seiner Welt. Einem alten DDR-Hinweisschild folgend, das am Wegesrand in einer Weißdornhecke gerade noch entzifferbar ist, gerate ich auf die Sandpiste, die er so beschrieben hat: Eine halbe Meile nördlich von Trieplatz liegt Tramnitz, ebenfalls ein alt-Rohrsches Gut. Der Weg dahin hat denselben Einsamkeitscharakter wie die zu Beginn des vorigen Kapitels von mir geschilderte Landschaft. Und die alte, einsame Chaussee zeigt die Schichten der Zeit: Betonplatten, behauenes Kopfsteinpflaster, Flußkiesel, Sand folgen aufeinander, immer weiter zurück in der Geschichte geht es dabei, im Rückspiegel die Staubfahne, die der Wagen hinter sich herzieht, als wäre er Fontanes Chaise. Durch die uralten Eichen fällt der Blick auf die menschenleere Kyritz-Ruppiner Heide.
Aber man muß, wie gesagt, den eigenen grünen Gläsern mißtrauen: In wenigen Wochen ist Landtagswahl, in den Dörfern fast nur Plakate der AfD, Wir sind das Volk und Vollende die Wende, Hol Dir Dein Land zurück und Der Osten steht auf lauten die Parolen. Man muß seinen grünen Gläsern mißtrauen: Wustrau, Neuruppin, Rheinsberg oder Lindow, wo die alten Eichen- und Lindenalleen besonders prächtig sind, diese Namen mit dem schönen Fontane-Klang bezeichnen auch den Weg von 40.000 KZ-Häftlingen, die Ende April 1945 durch Brandenburg und Mecklenburg getrieben wurden, weg vom näherkommenden Geschützdonner der Roten Armee. Vielleicht hat die Konjunktur der AfD auch damit zu tun, daß die DDR in den Dörfern keine anderen Spuren hinterlassen zu haben scheint als die alten Hinweistafeln auf diesen Todesmarsch. Ihr Vermächtnis lebt in unseren Taten fort, steht darauf. Was aber hieße das, wenn es denn stimmte?
Dubslav von Stechlin, in Fontanes letztem Roman, hat entschieden was gegen grünes Glas. Die Produkte seiner eigenen Glashütte sind ihm der Inbegriff einer neuen, kapitalistischen Zeit, die er ablehnt. Fontane läßt den Alten an einem Aussichtsturm, einer Anlage von meinem Vater her, eine bezeichnende Veränderung vornehmen: Damals waren nämlich noch lauter bunte Scheiben da oben, und alles, was man sah, sah rot oder blau oder orange aus. Und alle Welt hier war unglücklich, als ich diese bunten Gläser wegnehmen ließ. Ich empfand es aber wie ’ne Naturbeleidigung. Grün ist Grün und Wald ist Wald …
Und blau ist blau: am Ufer des berühmten Stechlinsees in Neuglobsow
Foto: Robert Rauh
Wenn es nur so einfach wäre! Der Zweifel an dem was ist, beinhaltet auch den Zweifel an dem, was angeblich nicht ist. Überall Aufsteller, Hinweistafeln, Museen, die die Wirklichkeit der Erfindungen zementieren sollen. Fontane-Touristen mit Panamahut und Leinenjackett, in der Hand ihre Taschenbuchausgabe des „Stechlin“, stehen in Neuglobsow am Ufer des berühmten Sees und suchen nach dem Schloß des Alten, obwohl sie wissen, daß es nie existiert hat. Aber auch das, was nicht ist, gibt es. Ich nehme ein Boot und fahre hin. Hoheitsvoll liegt das Schloß da, am Ende eines schnurgeraden Kanals, der vom Nehmitzsee mit sanft abfallenden Ufern auf dieses zuführt, ein breitgelagerter, rechteckiger Kubus, die Front eine mit Pilastern gegliederte Glaswand, dahinter die große Halle, hinter der wiederum der weiße, schmale Schornstein in den Himmel ragt. Am niedrigen Vorwerk und Wasserschloß, Auslaß der lange schon stillgelegten Umwälzpumpen, lande ich an.
Alle, die ins Schloß eingelassen werden wollen, müssen einen Zehnmarkschein der DDR vorweisen, ich bin entsprechend präpariert und halte ihn dem Kastellan hin. Der Schein zeigt eine Frau in weißem Kittel, mit langem, zum Pferdeschwanz gebändigtem Haar, die vor Reglern und Anzeigen in einer Art Schaltzentrale sitzt. Handelt es sich vielleicht um die schöne Melusine aus dem „Stechlin“?
Das Gebiet zwischen Großem Stechlinsee und Nehmitzsee wurde von Herrmann Göring zum Naturschutzgebiet erklärt. Als später das Schloß errichtet werden sollte, das ich nun besuche, fügte es sich, daß sich mitten in diesem Naturschutzgebiet ein verlassenes Forsthaus befand, das Göring seinerzeit General Milch zu bauen erlaubt und dafür den Naturschutz aufgehoben hatte. So gab es uralte Rechte an diesem Ort. Drei große Tannen bezeichnen auf dem Schloßgelände noch heute die Stelle des Forsthauses. Und wie der Soldatenkönig einst den Knesebecks die Möblierung für Schloß Karwe schenkte, so sicherte bei diesem Schloßbau Nikita Chruschtschow in einem Brief vom März 1956 Walter Ulbricht großzügige technische und personelle Hilfe zu. Ein Kernkraftschloß sollte entstehen, in allem nach dem zaristischen Modell des erst zwei Jahre zuvor in Obninsk bei Moskau errichteten ersten Kraftwerks der Welt. Mit einem Festakt ging es am 9. Mai 1966 in Betrieb – fast auf den Tage genau 21 Jahre nach jener Nacht, in der Erwin von dem Knesebeck sein Schloß verlassen mußte. Genosse Hauptingenieur Ackermann, deklamierte der zuständige Minister, ich beauftrage Sie, die Einspeisung von Elektroenergie in das Verbundnetz der DDR aufzunehmen und dafür zu sorgen, gemeinsam mit Ihrem ganzen Kollektiv, daß dieses Werk in Frieden arbeitet und seine Aufgaben voll erfüllt.
Kernkraftschloss nach zaristischem Modell: Zehn-Mark-Schein der DDR mit dem Motiv des VEB Kernkraftwerks Rheinsberg, 1971
Foto: Robert Rauh
Der Kastellan, ein drahtiger, braungebrannter Mann, zitiert die Ansprache aus dem Gedächtnis. Drei Jahre später hat er hier im VEB Kombinat Kernkraftwerk „Bruno Leuschner“ Greifswald, Betriebsteil Kernkraftwerk Rheinsberg als junger Ingenieur zu arbeiten begonnen. Nun, als Rentner, führt er mich treppauf und treppab, zeigt mir die Heiße Zelle im Druckreaktor, in der die Arbeiter mit ferngesteuerten Greifarmen hochstrahlende Materialien bearbeiteten. Ihr Blick ging dabei durch eine meterdicke Bleiglasscheibe. Deren grüner Schimmer berührt mich vertraut. Auch die sogenannte Blockwarte zeigt mir der Kastellan, das Herzstück des Kraftwerkes, mit den sowjetischen Schaltpulten voller Hebel aus Bakelit. An der Wand, hinter Glas, ein verblichenes Telegramm.
sed kl nrp
kernkraft rhsbg fs nr. 8323 v. 12.04.1961 10.50 schz
glueckwunschtelegramm
mit groszer freude und begeusterung nahmen wir den flug
des ersten kosmonauten um unsere erde zur kenntnis. –
wir beglueckwuenschen hiermit die ruhmreichen sowjetischen
voelker, die arbeiter und wissenschaftler, die konstrukteuere
und den ersten kosmonauten . – major garaxx gagarin –
zu diesem grandiosen erfolg. –
in der epoche des sieges des sozialismus im weltmaszstab
begeistert uns diese grosztat und gibt uns neue kraft fuer
die erfuellung unserer taeglichen aufgaben beim aufbau des
ersten groesseren deutschen atomkraftwerkes und des sozialismus
in der deutschen demokratischen republik –:
die belegschaft des
veb atomkraftwerkes roem. 1
kernkraft rhsbg
sed kl nrp
Und in den Maschinen-, nein Rittersaal führt mich schließlich der Kastellan, wo hoch oben das Wappen VEB SCHWERMASCHINENBAU-KOMBINAT ERNST THÄLMANN noch an der Katze über dem Laufkran prangt. Leider, erklärt er, sei fast nichts mehr von der alten Pracht erhalten. Und er schwärmt von den alten Zeiten und vom vergangenen Regime, als stolz die ganze Belegschaft Livreen trug aus weißem Feinripp, aufgestickt auf der Brust: KKW.
Neben einem Primär- und einem Sekundärkreislauf, mit dem die Wärme der Kernreaktion auf Wasser, auf Dampf und dann auf elektrische Energie übertragen wurde, gab es hier noch einen dritten Kreislauf, in dem, aus dem Nehmitzsee in eben jenem Kanal kommend, den ich entlanggefahren bin, Wasser die gesamte Anlage durchspülte, um, zehn Grad wärmer, in den Großen Stechlinsee abzufließen. Ein Verbindungskanal zwischen beiden Seen schloß den Kreislauf. Dreihundert Millionen Liter durchströmten täglich das Schloß und wälzten innerhalb eines Jahres den Großen Stechlinsee vollständig um. Seine märchenhaft-unterirdische Verbindung mit der Welt, vor der die schöne Melusine sich, trotz oder gerade wegen ihres Namens, so sehr fürchtet, und auf die der alte Dubslav im „Stechlin“ so viel gibt, fand so ihr technisches Echo. Insofern gäbe es für sein Schloß tatsächlich keinen besseren Ort als diesen. Unsichtbar wirkt weiter, was wir nicht sehen und was es vielleicht gar nicht gibt.
Fontane hat das gewußt. Seine „Wanderungen“ erzählen beinahe von nichts anderem. Trotz dieser Farbenpracht, fährt er in seiner Beschreibung von Schloß Karwe fort, macht alles einen ernsten und beinah düstern Eindruck und läßt uns auch ohne praktische Probe glauben, daß das Karwer Herrenhaus ein Spukhaus sei. Diese Behauptung steht seltsam unvermittelt in dem durchaus idyllischen Text. Und auch für den Schloßgeist, die schwarze Frau, von der er dann berichtet, findet sich kein Beleg in der Historie. Und doch hat der Schriftsteller Recht behalten. Karwe ist tatsächlich zum Spukschloß geworden, aber nicht in dem Sinn, daß es in ihm spukte: Es ist selbst zu einem Spuk geworden. Es gibt kein Schloß Karwe mehr, nicht einmal als Ruine.
Es ist selbst zu einem Spuk geworden: Schloss Karwe als drehbares Modell am ehemaligen Standort im Gutshof Karwe, 2019
Foto: Robert Rauh
Karwe gehört den Knesebecks in der vierten Generation, schreibt Fontane. Inzwischen ist es die achte. Krafft Freiherr von dem Knesebeck führt mich am See entlang, vorbei an einer Badestelle, hin zu einem kleinen Rondell aus drei Tannen, die jenen auf dem Gelände des Kraftwerks auffallend gleichen. Es seien die letzten von einundzwanzig, erklärt er. Diese einundzwanzig Tannen, heißt es bei Fontane, pflanzte der alte Feldmarschall im Sommer 1821, als die Nachricht nach Karwe kam, daß Napoleon am 5. Mai auf St. Helena gestorben sei. Was bleibt, was verschwindet? Das Wäldchen, in dem wir stehen, läßt den Park, der hier einmal war, nicht mehr erkennen. Wir schauen dorthin, wo einmal das Schloß stand, das 1983 abgerissen wurde. Es gibt ein Photo, das exakt unseren Blick auf seine Parkseite zeigt und wie es mit seinen zwei Flügeln in ihn hineinragt. Etwa dort, wo einst der pleasure ground war, befindet sich heute eine Wochenendhaussiedlung, jede Parzelle eingefaßt mit Maschendraht, darauf Bungalows der Baureihe B26c, die in der DDR mit einem Schlafraum, einem Wohnzimmer, kleiner Küche und Toilette als Fertigbausatz produziert wurden. Die Wandelemente, Fenster und Türen bereits montiert, bestanden aus Holzrahmen, außen mit Asbestzement- und innen mit Gipskartonplatten beschichtet. Die Pultdächer haben eine Neigung von zehn Prozent, das Dach besteht aus Asbestzementwelltafeln, der vordere Dachüberstand beträgt achtzig Zentimeter. Die Bungalows wurden nach dem Schloßabriß in den achtziger Jahren von der SED-Leitung Potsdam errichtet, und es wohnen dort noch immer ehemalige Lehrer der zugehörigen Bezirksparteischule. Grillstationen, Gartenzwerge, Sonnenschirme.
Ließ Knesebeck später beseitigen: Namensanstrich „LPG ‚Fortschritt‘ Karwe“ am Pferdestall des ehemaligen Guts (1990)
Foto: Robert Rauh
Wir wußten, wie es aussieht, erklärt von dem Knesebeck, wir hatten Photos. 1990 sei er mit seinem Vater Harro zum ersten Mal hier gewesen. Natürlich habe es in der Bevölkerung Angst gegeben, den Menschen solle nun wieder weggenommen werden, was sie in Besitz genommen hatten, doch darum sei es seinem Vater gar nicht gegangen. Er sei vielmehr aus Interesse an den Menschen nach Karwe gekommen, vor allem an jenen, die Anfang der vierziger Jahre vielleicht hinter dem Vorhang ihrer Fenster gestanden und gesagt hatten: Ach guck mal, da ist der junge Baron mit seiner Baronin! Damals nämlich hatte der Vater das Gut übernehmen sollen, es war schon mit dem Umbau begonnen worden im Südflügel, den er mit seiner Frau beziehen wollte. Wozu es dann nicht mehr kam.
Am eindrücklichsten sei das Zusammentreffen mit Hermann Behrend gewesen, dem Kutscher, der den Vater als einziger im Dorf noch kannte. Behrend habe darauf bestanden, die sechs Hektar Land, die ihm im Zuge der Bodenreform der DDR zugesprochen worden waren, wieder zurückzugeben. Er habe diese Übertragung immer als Unrecht empfunden. Der Moment beim Notar in Neuruppin. Als er da herauskam, habe der Vater erzählt, das sei ein Gefühl gewesen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Jetzt hast Du immerhin wieder sechs Hektar, habe er glücklich gedacht. Bald danach, 1993, sei er gestorben.
Den Bürgern des künftigen Zeitalters: Altes Gymnasium Neuruppin, 2019; im Hintergrund die Klosterkirche und der Ruppiner See
Foto: Marko Petruschke
Am Giebel des Alten Gymnasiums von Neuruppin, das auch Fontane besucht hat, prangt das Motto CIVIBUS AEVI FUTURI – Den Bürgern des künftigen Zeitalters. Ich stelle mir vor, wie der alte Knesebeck damals, 1990, als gerade wieder einmal ein künftiges Zeitalter begann, mit dem ebenfalls altgewordenen Kutscher nach dem Notartermin am Bernhard-Brasch-Platz noch die paar Schritte zum Tempelgarten gegangen ist, den er aus seiner Kindheit kannte, und wie sie dort miteinander ein bißchen umherspazierten. Fühlten sich die beiden da, für einen kurzen Moment, vielleicht wieder im Einklang mit ihrer Welt, die es nicht mehr gab? Und wer kutschierte wen? Friedrich II. hat den kleinen ummauerten Park in seiner Jugend angelegt, der Kaufmann Johann Christian Gentz, der mit Torfabbau im Ruppiner Land reich gekommen war, ihn später erworben, seine Söhne Wilhelm und Alexander, die beide eine große Sehnsucht nach dem Orient hatten, haben ihn entsprechend umgebaut. Die orientalischen Türmchen und Tore nehmen sich auch heute noch seltsam in der nüchternen preussischen Garnisonsstadt aus.
Vor allem Alexander Gentz hat Fontane interessiert. Man spürt, daß er in ihm, inmitten all der Geschichten vom alten Märkischen Adel, einen modernen, bürgerlichen Menschen-Typus erkennt. Ausführlich zitiert er aus seinen Lebenserinnerungen:
Das kleine Ruppiner Leben war durchaus nicht nach meinem Sinn, lauter Dinge, die sich erst zum Bessern kehrten, als mich der Wandel der Zeiten in größere kaufmännische Verhältnisse führte: Kapitals-Assoziationen fanden statt, und eine der großen Gründerepoche der siebziger Jahre voraufgehende Aktienschwindelzeit brach gerade damals an. In sich verwerflich genug. Aber so verwerflich diese Zeit und ihre Manipulationen sein mochten, ja, mit so großen Verlusten sie für mich verknüpft waren – das ganze kaufmännische Leben erschien mir doch plötzlich in einem neuen Licht, und wenn mich früher das Kleinliche gelangweilt und auch angewidert hatte, so war jetzt etwas da, was mich interessierte, was Gedanken und Spekulationen in mir anregte. Mit den größeren Summen, die mir trotz und inmitten meiner Verluste doch immer reichlich wieder zu Händen kamen, ermöglichten sich Unternehmungen der mannigfachsten Art, Ankäufe kamen zustande, und große und kleine Liegenschaften, teils in Nähe, teils in mehrmeiliger Entfernung von Ruppin, wurden erworben, was schließlich dahin führte, daß wir, mein Vater und ich, eine halbe Quadratmeile Torf- und Wiesenterrain im Wustrauschen und im Rhin-Luch besaßen, ja, uns bald danach sogar in der Lage sahn, ein mit einigen fruchtbaren Ackerstreifen durchsetztes Stück Sandland von nicht unbeträchtlichem Umfang anzukaufen. Dies waren die nach Rheinsberg hin gelegenen ›Kahlenberge‹, die, nach ihrer Umgestaltung in Acker-, Forst- und Weideland, den Namen Gentzrode und ein oder zwei Jahrzehnte später sogar die Rittergutsqualifikation empfingen.
Kornspeicher mit prächtigem Wohnturm (li.) in Gentzrode, Fontanes Skizze von 1864 (Notizbuch A1)
Foto: Digitale Notizbuchedition
Ruine des Kornspeichers mit Wohnturm, 2019
Das Areal wird zurzeit von einem türkischen Investor rekonstruiert (Stand: 2024)
Foto: Robert Rauh
Vom Tempelgarten in Neuruppin sind es zehn Kilometer hinaus nach Gentzrode. Man folgt zunächst der Wittstocker Allee, die heute durch ein Gewerbegebiet mit Autohäusern und Diskountmärkten führt, dann der alten Landesstraße 16, die schnurgerade nach Norden in Richtung Rheinsberg durch den Wald läuft. Auf der Karte des Deutschen Reiches von 1893, die auf der Preußischen Generalstabskarte fußt und kleinste Wege und Pfade, Gehöfte und Bebauungen zeigt, liegt Schloß Gentzrode in einer Gesamtanlage aus landwirtschaftlichen Flächen und einem offenen Park, erreichbar über eine weit geschwungene Zufahrtsstraße.
1861 ließ Alexander Gentz einen Kornspeicher mit prächtigem Wohnturm errichten, aus hellen Ziegeln, mit ornamentierten Stufengiebeln und einer vergoldeten Kugel auf dem Turm. Seine Autobiographie sollte dort, wie Fontane schreibt, nach seinem Wunsch und Willen, in den großen vergoldeten Turmknopf des in vorstehendem ausführlich geschilderten Speicheranbaus deponiert werden. In diesem Turm wohnte die Familie zunächst, bis 1876 das Herrenhaus errichtet und durch Gustav Meyer, den Lenné-Schüler, der Park samt Mausoleum angelegt wurde. Die Mittel waren da, denn es war die Zeit unmittelbar nach den Gründerjahren, und Ansehn und Vermögen standen auf der Höhe, kommentiert Fontane lakonisch.
Zugewuchert: Schloss Gentzrode, 2018
Das Areal wird zurzeit von einem türkischen Investor rekonstruiert (Stand: 2024)
Foto: Robert Rauh
Die Zufahrtsstraße existiert noch, wenn auch so überwuchert, daß die schmalen Fahrspuren ihre Pflasterung nur erahnen lassen, dichtes Gebüsch schickt sich an, sie endgültig zu verschlucken, armdicke Birken- und Buchensprößlinge schließen sich über ihr. Nur gelegentlich tauchen am Wegesrand mächtige Eichen und Rotbuchen auf, Reste des Parks, dessen Konturen im nachwachsenden Gehölz längst verschwunden sind. Doch irgendwann öffnet sich eine kleine Lichtung. Dürres Gras, Reste von Feuerstellen, ein zweiflügliges Eisentor hängt offen in seinen Angeln, die rote Farbe von der Sonne ausgebleicht. Dahinter das Gutshaus.
Auf Photos, die sich im Internet finden und die kaum zehn Jahre alt sind, steht es noch frei in den Resten der Park- und Hofanlage und man kann darauf die orientalisch anmutenden Rundbogenfenster und die reichen Verzierungen des Ziegelmauerwerks betrachten.
Heute sprießen die Birkenstämmchen, die schon damals begannen, sich im Gesims festzusetzen, aus allen Mauern, und der Kornspeicher mit seinem Turm ragt aus den Baumwipfeln hervor, als bemühte er sich verzweifelt, nicht im Grün zu versinken. Holzpaneele, die wohl die zerschlagenen Fenster ersetzen sollten, liegen überwuchert im Gras, in den Fensterrahmen, so es sie noch gibt, nur mehr Reste von Glas, auf der Eingangstreppe Gerümpel und Müll, im dunklen Entrée die Wände voller Graffiti, der Parkettboden herausgerissen, in den Ecken leere Flaschen und menschliche Exkremente, um die Fliegen summen. Aus den Löchern im Deckenstuck ragt das Stroh. Licht kommt aus dem ersten Stock herab, die Dächer gibt es nicht mehr. Der goldene Turmknopf ist verschwunden.
Reste von Glas: Ehemaliger Salon im Schloss Gentzrode, 2018
Foto: Robert Rauh
Was ich im Luch an Torfwiesen erstand, das hatte nur den Zweck des Gelderwerbes, meine Tätigkeit in Gentzrode dagegen war meine Lust und Freude. Zugleich hab ich es ins Leben gerufen, um es zur Grundlage für den Wohlstand und Zusammenhalt einer Familie zu machen, denn der Grundbesitz bleibt das sicherste und stabilste Besitztum, heißt es in Alexander Gentz’ Autobiographie. Fontane kommentiert: So schrieb er damals, ahnungslos, wie bald diese Herrlichkeit und mit ihm der stolze Plan eines andauernden Familienbesitzes zusammenbrechen würde. Die Katastrophe war nah. Denn alles hing am Torfabbau im Luch. Doch dann kam Torf außer Mode, man verbrannte jetzt lieber Steinkohlebriketts in den Berliner Wohnungen. Und so hieß es am 25. Mai 1880 an der Berliner Börse: Gentz ist bankrutt.
Das Gut wurde für einen Bruchteil seines Wertes verkauft und die lange Folge seiner Besitzerwechsel begann. Fontane nennt für 1888 einen früheren bremensischen Konsul in Argentinien, Herrn F. W. Nordenholz. Dieser gedenkt das Gut zu halten und in dem Geiste weiterzuführen, der es vor grad einem Menschenalter ins Leben rief. Es soll aufhören, ein Spekulationsobjekt zu sein, sondern umgekehrt wieder ein Gegenstand des Pflanzens, der Passion, des landwirtschaftlichen Versuchs werden. Doch dieser Wunsch, der offensichtlich auch der Fontanes ist, bleibt unerfüllt. Das Gut wird wieder und wieder verkauft, niemand hält es lange, 1934 wird es schließlich Schießplatz und Munitionslager der Wehrmacht, 1945 dann von der Roten Armee übernommen.
Bis zum Sommer 1991 ist hier die 112. Garderaketenbrigade der 2. Panzerarmee stationiert, nach deren Abzug beginnt der Verfall. Immer neue Versprechungen der wechselnden Besitzer erweisen sich als haltlos. Seit 2010 gehört Gentzrode türkischen Investoren, deren Pläne zur Rettung der historischen Bausubstanz nie umgesetzt wurden. In der offiziellen Denkmalliste des Landes Brandenburg wird es noch geführt, doch eigentlich gibt es das Schloß schon nicht mehr. Das Wachsende, gut oder nicht gut, beendet Fontane sein Kapitel über Gentzrode, tritt an die Stelle des Fallenden, um über kurz oder lang selber ein Fallendes zu sein. Das ist ewiges Gesetz.
Das Wachsende tritt an die Stelle des Fallenden: Schloss Gentzrode, kolorierte Postkarte, ca. 1915
Quelle: Archiv Rauh
Es ist diese Einsicht, gegen die er sein Projekt der „Wanderungen“ begann, bei dem es ihm nicht so sehr darum zu tun war, die Mark, auch nicht historisch, abzuschildern, sondern durch Einbildungskraft erst hervorzubringen. Der Zweck meines Buches, schreibt er 1861 in einem Brief, sei es gewesen, die Lokalität wie die Prinzessin im Märchen zu erlösen. Abwechselnd bestand meine Aufgabe darin zu der Unbekannten, völlig im Wald versteckten vorzudringen, oder die vor aller Augen Daliegende aus ihrem Bann, ihren Zauberschlaf nach Möglichkeit zu befrein. Die Schlösser, die er schildert, waren schon zu seiner Zeit so verlassen wie heute. Fast immer geht er durch leere Räume.
Ein wenig tröstet mich das, wenn ich heute, nach dem radikalen Bruch von 1945, nurmehr auf Museen, Seniorenheime und Hotels treffe, wo einmal die Geschichte von Familien sich mit der Landschaft auf jene Weise verwob, die Fontane so kostbar war. Jede Reise auf seinen Spuren ist ebenso Rekonstruktion von etwas, das es nie gegeben hat, wie es seine Wanderungen selbst schon waren. Kleists grüne Gläser werden wir dabei niemals los. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.
Die Parzellen, auf denen die Bungalows im ehemaligen Park von Schloß Karwe stehen, gehören noch immer der Stadt Neuruppin. Krafft von dem Knesebeck hat sich, um Ärger mit den Nachbarn zu vermeiden, gar nicht erst darum bemüht, als er nach und nach das Gut seiner Vorfahren zurückkaufte. Sein Plan ist vielmehr, es so zu restaurieren, daß irgendwann schon der Anblick der Bungalows im Schloßpark unerträglich sein wird. Die Dinge gehören einem und gehören einem auch nicht. Man steht in einer Reihe.
Seltsam: Mit derselben Selbstverständlichkeit zogen wohl auch die sozialistischen Ingenieure des Kernkraftwerks in ihre neu errichteten Werkswohnungen in Rheinsberg. Wieder hatte ein künftiges Zeitalter begonnen, das den Menschen mit seinesgleichen versöhnen sollte. Der Himmel stand blau über der sommerlichen Mark. Ich blättere in einem Brigadebuch vom Anfang der achtziger Jahre und lese, in blauer, runder Füllerschrift:
Abends endlich Sonnenschein,
wie könnt es auch anders sein.
Wir gehen heut zur Gartenfete,
wenns regnet wäre es doch blöde.
Verführerisch zieh’n Bratwurstdüfte
bei Schinks durch zarte Gartenlüfte.
Als Chefkoch, da fungiert der Meister,
Erdbeerbowle beschwingt die Geister,
gemischter Chor singt frohe Lieder,
Gläser kreisen immer wieder.
So sitzt vergnügt in froher Runde,
WT vereint zu später Stunde.
Der Hausfrau noch ein Lobgesang,
wir alle sagen herzlich Dank.
WT steht laut Abkürzungsverzeichnisses des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik für Waffenträger. WT vereint zu später Stunde. Adeliges Selbstverständnis auch hier. Das MfS hatte im Kernkraftwerk ein eigenes Dienstzimmer, Raum 234. Als ich in das Zimmer trat, saßen dort drei Männer, heißt es in einer Dokumentation. Die fragten mich: „Wollen Sie mal nach Verona, Paris oder London fahren?“ Die Grand Tour im Zerrbild der Staatssicherheit.
Gentzrode war dagegen ein ganz und gar bürgerliches Projekt, getrieben von der Hoffnung, die Spekulationsgewinne der Gründerzeit auf Dauer stellen zu können, von der Sehnsucht nach einer Nobilitierung durch das Land. Diese Sehnsucht konnte sich nicht erfüllen, weil das Land nicht mehr die Basis des Erfolges war, und so gleicht Gentzrode heute folgerichtig eher einer Industriebrache als jenem Schloß, das es einmal werden sollte. Und ebenso folgerichtig verwandelt sich das Kraftwerk Rheinsberg, das 1990 vom Netz ging – im selben Jahr, in dem Harro von dem Knesebeck erstmals zurück nach Karwe kam –, langsam in eine mittelalterliche Ruine. Das künftige Zeitalter, das es hervorbrachte, ist vergangen. Das grüne Glas im ehemaligen Druckreaktor wird demnächst verschwinden. Alles, was einmal hier haftete, wird dekontaminiert. Übrig bleiben wird eine Gebäudehülle, die keinen Zweck mehr hat und keine Geschichte.
Vielleicht die größte Sehenswürdigkeit Rheinsbergs: Obelisk, dem Schloss gegenüber, 2019
Foto: Robert Rauh
Vielleicht die größte Sehenswürdigkeit Rheinsbergs, schreibt Fontane etwas überraschend, ist der Obelisk, der sich, gegenüber dem Schlosse, am jenseitigen Seeufer auf einem zwischen dem Park und dem Boberow-Walde gelegenen Hügel erhebt. Daß Fontane dieses Denkmal so schätzt, verwundert. Errichtet vom Bruder Friedrichs II., feiert es militärische Helden des Siebenjährigen Krieges, die vom König um ihr gebührendes Gedenken gebracht worden waren. Es hat nichts genutzt. Mühsam versuchen die Touristen die Elogen zu entziffern, die der feingeistige Prinz einst auf Französisch verfaßte, für Tauentzien, Möllendorf, Platen und all die anderen märkischen Waffenträger. Sie umkreisen dabei den Obelisken wieder und wieder und verstehen nicht, weshalb es ihn gibt.
Lange sitze ich auf einer Bank im Schatten einer Eiche und beobachte sie. Wer ist ein Humorist? fällt mir plötzlich die Frage eines Kollegen Fontanes ein, den dieser nicht sehr schätzte, und seine Antwort: Der den winzigsten aller Nägel in die Wand oder die Hirnschale des hochlöblichen Publikums schlägt, und die ganze Garderobe der Zeit und aller vergangenen Zeit dran aufhängt. Und es kommt mir so vor, als wäre der Obelisk tatsächlich dieser winzigste aller Nägel, getrieben in die Stirn des blauen Sommerhimmels über der Mark, und alles beginnt sich um ihn zu drehen, um ihn und um mich, drei verschwundene Schlösser, drei Tannen, verschiedene Tage im Mai.
Knesebeck holte Fontane nach Karwe zurück: Krafft Freiherr von dem Knesebeck (1954–2020) bei der Eröffnung der Ausstellung „Fontane trifft Knesebeck“ in Karwe, 2019
Foto: Robert Rauh
Krafft Freiherr von dem Knesebeck, ein großer, schlaksiger Mittsechziger, sitzt unter den Bildern seiner Ahnen, die eine ganze Wand im ehemaligen Pferdestall von Karwe bedecken, in dem er seit 1992 lebt. Nach und nach, erzählt er, seien einige der Dinge aus dem verschwundenen Schloß zu ihm zurückgekehrt. Ein Silberbecher etwa, den ein Lagerarbeiter beim Spielen in den Kellergewölben gefunden und jahrzehntelang aufbewahrt habe, sein größter Schatz in Kindertagen. Einmal sei ein Päckchen mit einem anonymen Brief gekommen. Nachdem sie gehört habe, ein Knesebeck sei wieder auf Karwe, schicke sie hier ein Buch, das die Mutter, mit dem russischen Kommandanten befreundet, für sie einst aus der Bibliothek mitgenommen habe, ein schön illustrierter Band über Schmetterlinge mit dem Ex Libris der Karwer Schloßbibliothek. Und eines Tages habe eine ältere Frau aus dem Dorf bei ihm geklopft und zwei Meißner Teller zurückgebracht. 1945 habe sie einen russischen Soldaten für sich und ihre Mutter um Teller gebeten und der Soldat habe daraufhin einen ganzen Stapel aus dem Schloß geholt, sie aufgefordert, zwei herunterzunehmen, und nachdem sie dies tat, lachend die Arme ausgebreitet und der ganze Stapel sei auf dem Pflaster in Scherben gefallen.
Und irgendwann hat jemand ein Medizinfläschchen vorbeigebracht, erzählt Krafft von dem Knesebeck, das er als Kind im Schloß gefunden habe. Der angehängte Zettel wies die Apotheke von Fontanes Vater in Neuruppin als Herkunft und Cäcilie von dem Knesebeck als Empfängerin der Medizin aus, die ihr also als Kind vor zweihundert Jahren verabreicht worden sein muß. Er reicht mir das Fläschchen und ich betrachte es lange. Muß an meine Tage hier im Ruppiner Land denken, die nun zu Ende gehen, und gebe es ihm zurück. Im „Stechlin“ ist die Farbe der ganz ähnlichen Arznei, die der alte Dubslav vor seinem Tod erhält und die ihm so gar nicht schmeckt: grün.
Zum Autor: Thomas Hettche, deutscher Schriftsteller und Essayist, ist Mitlglied der Akademie der Künste, Berlin, sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Quelle
- Thomas Hettche: „Grüne Gläser.“; in: Wanderungen. Literarische Erkundungen auf den Spuren von Theodor Fontane. Thomas Hettche, Ingo Schulze, Judith Zander. Mit Zeichnungen von Matthias Beckmann. Herausgegeben von der Stiftung St. Matthäus – Kulturstiftung der EKBO. Edition St. Matthäus, Berlin 2019, S. 85–110.