Fontanes Faible für Mumien – Kalebuz in Kampehl

Die Mumie Kalebuz, neben ihm der in der Brusthöhle gefundene Bleistift, 2024
Foto: Robert Rauh

von Gabriele Radecke und Robert Rauh

„Fontane brauchen Sie gar nicht zu lesen“, sagt eine ältere Dame. Sie hatte sich neben uns auf die Kirchenbank gezwängt und dabei unseren „Wanderungen“-Band „Die Grafschaft Ruppin“ entdeckt. Die Frau wartet keine Reaktion ab, sondern setzt nach: „Kampehl fehlt in den ‚Wanderungen‘, obwohl unser Kalebuz schon zu Fontanes Zeiten eine Attraktion war.“ Es klingt trotzig. Dabei hatte Fontane ja ein Faible für Mumien. Ein Blick in die überfüllte Kirche zeigt, dass der Ort keines Botschafters bedarf. Die Menschen strömen auch so – zu ihm. Zu Kalebuz, der in Gestalt einer nicht verwesten Leiche seit 300 Jahren in der Gruft besichtigt werden kann. Der nackte, 1,70 Meter große Körper aus ledernder Haut liegt unter einem gläsernen Sargdeckel. Bei der Mumie handelt es sich – mit größter Wahrscheinlichkeit – um Christian Friedrich von Kahlbutz (1651–1702), der laut Kirchenbuch „Kalebuz“ geschrieben wird und aufgrund seiner Verdienste in der Schlacht bei Fehrbellin 1675 vom Großen Kurfürsten das Gut Kampehl in der Nähe von Neustadt (Dosse) erhalten haben soll. Als Kalebuz, der zunächst in der Gruft beigesetzt worden war, knapp hundert Jahre nach seinem Tod erdbestattet werden sollte, wurde seine nicht verweste Leiche entdeckt.

Seit Jahrhunderten Anziehung für Schaulustige: Kampehler Kirche mit Kalebuz-Gruft
Foto: Robert Rauh

Die ältere Dame neben uns schaut ungeduldig auf die Uhr; der Vortrag hätte bereits vor fünf Minuten beginnen sollen. Weil die Plätze nicht ausreichen, werden Stühle in die Kirche geschleppt. Das Interesse an der jüngsten Kalebuz-Forschung ist groß. Die Ergebnisse werden auf keiner Pressekonferenz präsentiert, sondern exklusiv hier, in der Kampehler Kirche. Die Verzögerung nutzend schieben wir ihr den aufgeschlagenen „Wanderungen“-Band hinüber. Sie prüft zunächst ihren perfekt sitzenden Dutt und dann die entsprechende Seite. „Herrje, können Sie sich denn keine neue Ausgabe mit moderner Schrift leisten“, ruft sie aus. Dann liest sie die Überschrift und flüstert fast erschrocken: „Kampehl“.

Campehl und Kalebuz in den „Wanderungen“

Kampehl ist nicht allein. Das Dorf gehört zu Fontanes verschwundenen Orten. Der Ruppiner Reigen reicht von Bechlin über Binenwalde bis nach Wildberg und Wuthenow. Sie alle sind versammelt in dem Kapitel „Dörfer und Flecken im Lande Ruppin“, das Fontane 1865 bei der Neukonzeption seines ersten „Wanderungen“-Bandes aufgenommen – und zehn Jahre später, bei einer erneuten Überarbeitung, wieder herausgenommen hatte. Aus heutiger Sicht mag Kahlebuz‘ Aufritt in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ nur temporär gewesen sein. Versteht man Fontanes vierbändiges Monumentalwerk jedoch als work in progress, an dem er über dreißig Jahre gearbeitet hat, dann gehören Kampehl und Kahlebuz selbstverständlich dazu.

„Campehl“ in den frühen „Wanderungen“: „Die Grafschaft Ruppin“, 2. Auflage von 1865
Foto: Robert Rauh

Der Abschnitt über Fontanes Flecken „Campehl“, den die Frau jetzt begierig verschlingt, kennt nur ein Thema: die „Mumie des Herrn von Kahlebutz“, die in einer alten, „ziemlich wüsten Gruftkammer ruht“. Seitdem bediene Kahlebutz „das Spuk- und Sagenbedürfnis des Volks“, behauptet Fontane. Einige Geschichten gibt der Dichter zum Besten. „Kahlebutz“ springe „den Leuten auf den Rücken und wird immer schwerer, je mehr sie sich mühen, ihn abzuschütteln“. Die entscheidende Geschichte fehlt allerdings. Es heißt, schreibt Fontane, Kahlebutz verwese nicht, weil er seinen Schäfer erschlagen habe. Dann bekennt er freimütig: „Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat.“ In der Gruft erfährt der Besucher heute mehr. Belegt ist ein Gerichtsverfahren. Für das Motiv gibt es mindestens zwei Versionen. Kalebuz habe aus Rache gehandelt, so lautet die bekannteste, weil die Verlobte des Schäfers dem Gutsbesitzer das „Recht der ersten Nacht“ verweigert habe. Unglaubwürdig ist auch die zweite Erklärung. Kalebuz hätte gemordet, weil der Schäfer seine Herde über die Wiese des Guts treiben wollte. Am Ende wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Vor Gericht habe Kalebuz selbstbewusst verkündet: Wenn er doch der Mörder gewesen sei, dann wolle Gott, sein Leichnam solle nie verwesen.

Passt nicht in jede Röhre: Mumie mit über dem Bauch gefalteten Händen im Sarg
Foto: Robert Rauh

Kalebuz-Kuriositäten

Statt dieser Sage erzählt Fontane vom weiteren Schicksal der Mumie. „Übermütige Franzosen“ hätten die Leiche während der Napoleonischen Kriege aus der Gruft geholt und als „Gekreuzigten auf den Altar“ gestellt. Als einer der „Übeltäter“ die linke Hand festnageln wollte, „fiel der erhobene Mumienarm zurück und gab dem unten stehenden Franzosen einen Backenstreich“. Daraufhin fiel er tot um; „Schreck und Gewissen“ hätten ihn getötet. Die Anekdote lässt Fontane nicht unkommentiert stehen. In einer Fußnote erklärt er, der „Herr von Kahlebutz liegt mit gefalteten Händen da, die Finger beider Hände wie in eins zusammengewachsen“. Durch solche Tatsachen lasse sich das „Sagenbedürfnis des Volks“ jedoch nicht stören. Es gehört zu den Kalebuz-Kuriositäten, dass dessen über dem Bauch gefaltete Hände in den 1980er-Jahre eine Untersuchung in der Berliner Charité behinderten. Als DDR-Mediziner die Mumie vor laufenden Kameras einer Computertomographie unterziehen wollten, gelingt das nur zur Hälfte, weil die Röhre zu klein war.

War Fontane in Kampehl?

Weil der Vortrag noch immer nicht beginnt, will die Dame mit Dutt wissen, ob Fontane denn auch in der Gruft war. Irgendwo habe sie gelesen, er hätte nicht alle „Wanderungen“-Orte persönlich aufgesucht. Da keine Reisenotizen zu Kampehl überliefert sind und Fontane lieber das „Sagenbedürfnis“ bedient anstatt die Mumie näher zu beschreiben, liegt der Verdacht nahe, dass sich die beiden Brandenburger Berühmtheiten nie begegnet sind. Kalebuz taucht jedoch in einer weiteren, nahezu gleichlautenden Fußnote der „Wanderungen“ auf. In ihr bekräftigt der Wanderer seine Zweifel mit einem entscheidenden Zusatz: Er sei, schreibt Fontane in Klammern, „in der Kampehler Kirche gewesen“ und könne die Franzosen-Geschichte daher „leider nicht bestätigen.“

Diese zweite Kalebuz-Fußnote befindet sich im Kapitel über Berlin-Buch („Spreeland“), in dem Fontane von einer weiteren Mumie erzählt. In der Bucher Kirche habe er in der Gruft den schweren Eichensarg und den „völlig mumifizierten Körper“ von Gerhard Bernhard Freiherr von Poellnitz (1617–1676) inspiziert. So zeige die Stirn eine Fraktur des Schädelknochens – „infolge eines Säbelhiebes, den der Freiherr in einer der Schlachten des Dreißigjährigen Krieges empfing“. Dass Nasenbein habe sich Poellnitz dagegen als Toter gebrochen. Voll Übermut hätten die Franzosen – wie bei Kalebuz – den Mumienkörper aus der Gruft geholt und „allerlei frivole Spiele mit ihm“ getrieben.

„Campehl“ auch in Fontanes Notizbuch

Während Kalebuz das Privileg hat, bis heute allein in der Kampehler Gruft zu liegen, teilt sich Poellnitz seine letzte Ruhestätte schon zu Fontanes Zeiten mit zwanzig Mitgliedern der adligen Familien Viereck und Voß. Auch sie sind mumifiziert – und Fontanes Erklärung kommt der wissenschaftlichen von heute ziemlich nah: Trockenheit und „mehr noch eine beständige leise Bewegung der Luft“.

Im Unterschied zu Fontanes Ausflug nach Kampehl, ist seine Reise nach Buch im Notizbuch belegt. Unter den Aufzeichnungen zur Bucher Kirche von 1860 notierte er noch einen Vermerk zu „Campehl“. Der nur fünf Zeilen lange Abschnitt widmet sich ausschließlich der „Geschichte mit dem Franzosen“. Vermutlich diente der Vermerk als Erinnerung für den fünf Jahre darauf verfassten „Campehl“-Abschnitt im später verschwundenen Kapitel „Dörfer und Flecken im Land Ruppin“.

Vermerk zu „Campehl“ (unten) vermutlich als Erinnerung: Fontanes Notizbuch A11, 1860
Foto: Digitale Notizbuchedition, hrsg. von Gabriele Radecke

In den „Wanderungen“ gibt es noch weitere Mumien-Geschichten. Berühmt blieb nur die von Kalebuz. Schon bei Fontanes Besuch in der Kampehler Gruft habe ihm der Küster „von der großen Popularität dieser Mumie“ erzählt, vor allem bei „Handwerksburschen aus aller Herren Länder, die durch Kampehl zögen“ und Kahlbutz „alle als ein Kuriosum der Mark Brandenburg kennen“. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Kampehl bedarf keines Botschafters: Überfüllte Kirche aus Anlass des Vortrags von Professor Winkelmann über die Forschungsergebnisse der Kalebuz-Untersuchung am 12. Juli 2024
Foto: Robert Rauh

Durchleuchtung eine Mumie

Als Professor Andreas Winkelmann von der „Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane“ endlich mit seinem Vortrag beginnt, haben sich in der kleinen Kirche über hundert Interessierte eingefunden. Winkelmann berichtet unter anderem über die diesmal erfolgreich verlaufende CT-Untersuchung: Es handle sich um einen 50 bis 60-jährigen Mann, dessen Leichnam weitgehend gesunde Knochen und Organreste aufweise. Es gäbe keine Hinweise auf eine künstliche Mumifizierung. Soweit so bekannt.

Ein Raunen geht durch die Reihen, als der Anatomie-Professor auf ein spektakuläres Fundstück in der Leiche zu sprechen kommt: In der Brusthöhle habe man einen über hundert Jahre alten Bleistift gefunden (Foto, s.o.). Die Mumie weise – vermutlich aufgrund einer Gewebeentnahme im Jahr 1895 durch den Mediziner Rudolf Virchow – eine größere Öffnung im Brustkorb auf, durch die der Stift wohl in den Körper gelangt sei. Winkelmann spricht von „Schabernack“. „Das passt doch zu Kalebuz“, kommentiert die Dame mit Dutt. Nach dem Vortrag wurde der Bleistift im kleinen Kreis neben der Mumie platziert. Dann schloss sich der Glasdeckel wieder. Brandenburgs berühmteste Mumie ist um eine Anekdote reicher.

Diesmal passte Kalebuz in die Röhre: CT-Untersuchung der Mumie in Neuruppin, 2024
Foto: Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane

Dann schloss sich der Sarg wieder: Die Mumie und der Professor: Andreas Winkelmann (li.) und Christian Friedrich von Kahlbutz (im Sarg), 12. Juli 2024
Foto: Robert Rauh

Quelle


Literatur

  • Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Erster Theil. Die Grafschaft Ruppin. Barnim=Teltow, 2. vermehrte Auflage, Verlag von Wilhelm Hertz, Berlin 1865.
  • Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Vierter Theil. Spreeland. Beeskow=Storkow und Barnim=Teltow, [1. Auflage], Verlag von Wilhelm Hertz, Berlin 1882.
  • „Ritter Kahlbutz“ – Mumie in der Wehrkirche Kampehl; in: Herbert Ullrich: Schädel-Schicksale historischer Persönlichkeiten, Verlag Dr. Friedrich Pfeil, München 2004, S. 184–189.

Weblinks

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