Der Nischen-Antisemit – Fontane und die „Judenfrage“

Die 1866 eingeweihte Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin, Stich von 1887 (Ausschnitt)
Quelle: Märkisches Museum Berlin

von Gabriele Radecke und Robert Rauh

Es wird immer mehr zur Gretchenfrage: Wie hielt es Fontane mit den Juden? Zwar wird innerhalb der Forschung betont, dazu sei alles gesagt. Aber die bisher nicht eindeutig beantwortete Frage wird angesichts des zunehmenden Antisemitismus in der Gesellschaft neu diskutiert. Sogar Fontanes Geburtsstadt meldete sich zu Wort und ließ über ihren Sprecher erklären, „das Problem“ werde in Neuruppin immer wieder „öffentlich benannt“.

Während aber in Brandenburg niemand den Beinamen „Fontanestadt“ tilgen möchte, schlug die Grüne Jugend Hessen vor, nach Antisemiten wie Fontane benannte Straßen „bis zum ersten Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 07. Oktober 2024 umzubenennen“. Aufgrund empörter Kommentare in einigen Medien wies die Grüne Jugend den Vorwurf zurück, sie hätte „Fontanes Antisemitismus mit der Hamas verglichen“. 

„Als erste Hilfeleistung hat die GRÜNE JUGEND Hessen Schilder in ganz Frankfurt am Main installiert, die nach Antisemiten benannte Straßen kennzeichnen.“ (Zitat aus: Presseerklärung der Grünen Jugend Hessen vom 4. März 2024): Schild unter der Fontanestraße in Frankfurt (inzwischen wieder abgenommen).
Foto: Sebastian Klinker

Hessens Straßen sind jedoch ein Nebenschauplatz. Denn „das Problem“ von Fontanes Antisemitismus ist nicht nur „ein weites Feld“. Seit Jahrzehnten ringt die Forschung um eine angemessene Bewertung. Und scheitert regelmäßig an Fontanes scheinbar widersprüchlichen Aussagen zur „Judenfrage“. Das zeigen auch die jüngsten Reaktionen der beiden Fontane-Biografen.

Regina Dieterle führt Fontane selbst ins Feld, der seinen Antisemitismus als eine „Alterserscheinung“ bezeichnet habe. Wenn er „in entsprechender Stimmung“ war, konnte Fontane „sehr heftig gegen Juden schimpfen“. Und Iwan-Michelangelo D’Aprile argumentiert, dass Fontanes Briefe mit antisemitischen Äußerungen nicht zu seinem literarischen Werk zählen. Man müsse „die öffentliche Person Theodor Fontane in den Blick nehmen“, dann könne „man ihn sicher nicht als Antisemiten bezeichnen“.

Tiraden gegen Juden

Diese Auffassung wird nicht von allen geteilt. Wenn man unter Antisemitismus jede Art von negativer Vorurteilsbildung gegen Juden als Gruppe versteht, dann sei Fontane, so der Literaturwissenschaftler Norbert Mecklenburg, „ohne Zweifel Antisemit“. Auch dessen Werk sei „nicht frei von antisemitischen Impulsen“, die noch immer „weitgehend, ja geradezu systematisch ignoriert oder heruntergespielt“ würden.

Die Polarisierung ist auf Fontanes ambivalente Aussagen in seiner erst postum veröffentlichten Privatkorrespondenz zurückzuführen. Je nach Bedarf lassen sich ausreichend positive und negative Beispiele finden. Äußerungen über die Juden als Kulturträger – „[w]ie stumpf und arm, auch geistig arm, wirkt daneben der Durchschnittschrist“ (1895) – stehen haarsträubende Tiraden gegenüber, die von Stereotypen über den christlichen und sozialen bis hin zum rassistischen Antisemitismus reichen.

Zu ihnen gehört auch der Brief an den Philosophen Friedrich Paulsen von 1898, in dem Fontane konstatiert, die Juden seien „trotz aller Begabungen, ein schreckliches Volk“, dem „von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann“. Fontane spricht sich vor allem gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden seit 1871 aus: „Es wäre besser gewesen, man hätte den Versuch [ihrer] Einverleibung nicht gemacht.“
Besonders irritierend ist der Nachsatz, Fontane habe „persönlich von den Juden bis diesen Tag nur Gutes erfahren“. Dieses Eingeständnis lasse sich „rational nicht erklären“; auch Fontanes viel zitierte Widersprüchlichkeit, konstatierte bereits 1993 der Literaturwissenschaftler Peter Goldammer, „versagt hier als Interpretationsmuster“.

Fontane agierte stets als Nischen-Antisemit, der seine antijüdische Gesinnung zwar nie öffentlich äußerte, aber im privaten Raum keinen Hehl daraus gemacht hat. Nicht ohne Grund beklagte seine Tochter, ihr Vater „schimpft mehr wie schön ist auf die Juden“. Marthas Besorgnis belege, schreibt der Publizist Harry Nutt, dass es in den 1880er Jahren „ein ausgeprägtes Bewusstsein über den zeitgenössischen Antisemitismus“ gegeben habe, der über den Theologen Adolf Stoecker und den Historiker Heinrich von Treitschke „längst auch in den akademischen Raum eingedrungen war“. Fontanes judenfeindliche Äußerungen seien „keine Lappalie“. Daher lässt sich Fontane auch nicht als „Antisemiten mit schlechtem Gewissen“ (Mecklenburg) charakterisieren.

„Schimpft mehr wie schön auf die Juden“: Fontane mit seiner Tochter Martha in Arnsdorf, Riesengebirge, unbekannter Fotograf, 1886
Quelle: Theodor-Fontane-Archiv

Ästhetische Selbstzensur

Bleibt die Frage nach Fontanes literarischem Werk. Für die ästhetische Umsetzung hat der Dichter selbst einen Maßstab formuliert. In seiner Rezension von 1855 zu Gustav Freytags „Soll und Haben“ bedauert er, der Autor habe sich „bis zur Ungerechtigkeit“ gegen das Judentum hinreißen lassen. Und postuliert, es sei „eine Pflicht des Schriftstellers […] alle Empfindungen zu nähren, die jener Toleranz [gegenüber den Juden] günstig sind“. Diesem Anspruch wird Fontane nicht konsequent gerecht. Auch in seinem Werk erweist er sich als Nischen-Antisemit, der seine Lyrik und Prosa mit mehr oder weniger versteckten Spitzen versieht.

Wie groß das Ausmaß ist, verdeutlicht erstmals Michael Fleischers umfangreiche Studie, die 1998 nur im Selbstverlag erschienen ist. Die Raffinesse, mit der Fontane antisemitische Stereotype versteckt, zeigt seine weniger bekannte Erzählung „Wohin?“ von 1888.

In einem Gespräch über mögliche Reiseziele will ausgerechnet der jüdische Bankier James Orte meiden, in denen vermehrt Juden Urlaub machen – ohne es explizit auszusprechen. In dem anvisierten Ostseebad Misdroy gebe es „mehr Mücken als Berlin[er]“ und „wenn ich [James] im Bade bin, will ich im Bade sein und nicht an der Börse“. Seine Frau, vom Erzähler als „im letzten Winkel ihres Herzens eigentlich Anti-Semitin“ charakterisiert, stimmt ihm lachend zu. 

„Der muss hinaus! der muss hinaus! Hinaus“ (letzte Zeile aus dem „Borkum-Lied“): Bäderantisemitismus im Kaiserreich, Postkarte 1902
Quelle: Archiv Rauh 

Wer auf die Vielstimmigkeit im literarischen Werk verweist, das den Zeitgeist im Kaiserreich widerspiegle, blendet Fontanes Grundeinstellung aus. Seine publizierten literarischen Texte sind einer ästhetischen Selbstzensur unterworfen, für seine Briefe und Notizbücher gilt das aber nicht. Der schlesische Erholungsort Salzbrunn, notiert er 1872, werde ungenießbar durch „die Unmassen von Juden, die sich umhertreiben.“

Fontane hat seinen Antisemitismus nie öffentlich propagiert. Das übernahm sein Sohn Friedrich, der den bereits erwähnten Brief an Paulsen der NS-Presse zur Verfügung gestellt hatte. Er sei „von Kindesbeinen an ein Judenfreund gewesen“, schreibt Fontane 1880, aber er wünsche den Juden eine „ernste Niederlage“, und wenn nicht jetzt, dann breche in Zukunft „eine schwere Heimsuchung über sie herein“. Dass die Nationalsozialisten seine Aussagen vereinnahmten, entschuldigt nicht Fontanes antisemitische Denkmuster. Und sie klar zu benennen bedeutet nicht, Fontanes literarische Verdienste in Frage zu stellen.

Zu den Autoren: Gabriele Radecke ist Literaturwissenschaftlerin, leitet das Literaturarchiv der Akademie der Künste Berlin und ist Herausgeberin der digitalen Fontane-Notizbuch-Edition. Robert Rauh ist Historiker und Publizist. Zusammen betreiben sie diese Website „Fontane Online“ sowie die Website Fontanes Wanderungen.


Quelle


Weblinks zur aktuellen Diskussion (2024)


Literatur

  • Thomas Brechenmacher: Judentum; in: Theodor Fontane Handbuch. Band 1, hrsg. von Rolf Parr, Gabriele Radecke, Peer Trilcke und Julia Bertschik, De Gruyter, Berlin/Boston 2023, S. 1200–1207 [erste Seite].
  • Norbert Mecklenburg: „Kommen Sie, Cohn!“; in: Jüdische Allgemeine vom 18.1.2020
  • Norbert Mecklenburg: Fontane und die Juden. Ressentiment mit schlechtem Gewissen und besonderen Finessen, in: ders.: Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt und Ressentiment, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018, S. 194–218.
  • Michael Fleischer: „Kommen Sie, Cohn.“ Fontane und die Judenfrage, Selbstverlag, 1998.

Eine Meinung zu “Der Nischen-Antisemit – Fontane und die „Judenfrage“

  1. Georg Herrmann sagt:

    Beim Studium in den Werken von Karl Marx entdeckte ich auch solche antisemitische Äußerungen.
    Die im obigen Text geäußerten kritischen Anmerkungen zu Fontane regen zumindest an, Literatur und auch eigenes Denken immer wieder auf einen eigenen Prüfstand zu stellen. Danke den Autorinnen und Autoren.

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